Marathon
verstehen. Seine
Worte schepperten viel zu laut aus den Lautsprechern und hallten
durch die Straßen. Kusnezow fixierte mit dem Zielfernrohr die
Zuschauer, die auf den Einlauf der Spitzengruppe
warteten.
Vor ein paar Minuten
hatte er ein seltsames Spektakel beobachten können. Eine Frau
hatte einen Mann in die Knie gezwungen, um über eines der
Absperrgitter zu springen. Nur wenige Sekunden später hatten
sie ein paar Männer in schwarzen Windjacken
überwältigt und im Polizeigriff von der Strecke
befördert. Er hatte sich die Situation nicht erklären
können, aber das wunderte ihn nicht. Alles, was er hier sah,
war genauso seltsam wie das, was noch passieren sollte. Was
für ein Auftrag! Was für ein Aufwand!
Rhythmischer Applaus
schwappte über den Rhein und wurde immer lauter. Wie eine
Welle erreichte das Klatschen die Tribünen, wo sich die
Zuschauer von ihren Plätzen erhoben. Kusnezow suchte im
Fadenkreuz nach dem Grund der Begeisterung.
Ein schwarzer Mann kam
ihm entgegengelaufen. Mit Eleganz rannte der große, hagere
Athlet aufs Ziel zu. Kusnezow suchte ein Lächeln im Gesicht des
uneinholbar führenden Läufers. Doch der ließ sich
mit ernster Miene lediglich zu einem kurzen Gruß mit der Hand
hinreißen, bevor er die letzten Meter der Strecke ohne einen
Anschein von Anstrengung hinter sich brachte.
Der Mann am Mikrofon
brüllte einen Namen und ein paar Zahlen. Der
Köln-Marathon hatte seinen Sieger, der sich nun hinter der
Ziellinie eine Decke umhängen ließ. Die Zeitungen
würden seinen Namen erwähnen, und keiner würde sich
dafür interessieren: Es hatte mal wieder irgendein Afrikaner
irgendeinen der unzähligen Marathons, die auf der ganzen Welt
stattfanden, gewonnen. Er würde einen großen Scheck in
die Kameras halten und wieder nach Hause fliegen. Das rhythmische
Klatschen ging weiter. Andere schwarze Männer bogen in den
Zielbereich ein. Kusnezow suchte weiter nach einem Lächeln in
einem der Gesichter. Aber hier schienen nur Profis unterwegs zu
sein, die wie er routiniert einen Job machten. Ein kleiner,
drahtiger Mann fiel aus der Reihe. Er riss beide Arme hoch, als er
ins Ziel kam, und freute sich übers ganze Gesicht. Er blieb
der einzige unter den ersten zehn, elf Läufern, die den
Marathon hinter sich gebracht
hatten.
Dann sah Kusnezow
wieder die Frau, die eben abgeführt worden war. Auch sie hatte
beide Arme hochgerissen, fuchtelte wild durch die Luft und
hätte fast einen der Athleten umgerannt. Wieder folgten ihr
die Männer in den schwarzen Regenjacken, doch diesmal schienen
sie weniger Interesse an der Frau zu haben.
Zwei Polizisten
bahnten sich den Weg durch die Menschenmenge jenseits des Zauns.
Endlich machte der Mann am Mikrophon mal eine Pause. Wie hätte
er die Rennerei in die falsche Richtung kommentieren sollen?
Stattdessen dröhnte Marschmusik durch den Zielbereich, zu der
jemand in einer seltsamen Sprache oder in einem für Kusnezow
unverständlichen Dialekt sang.
Die Frau stolperte
über die Ziellinie, während ihr zwei weitere Läufer
in einem kleinen Laufduell entgegenstürmten. Gleichzeitig
hatten die beiden Polizisten die erste Reihe der Zuschauer
erreicht. Alle drei fielen über einen Mann in einem langen
Mantel am Streckenrand her. Während sie ihn zu Boden warfen,
stürzte die hüfthohe Barke um, die
hier Zuschauer und Laufstrecke trennte. Die hohen Absperrgitter
schützten nur den Bereich hinter der Ziellinie. Die Frau
drückte das Gesicht des Mannes auf den Boden, während ihn
einer der Polizisten zu durchsuchen schien.
»Ich könnte
dir helfen«, murmelte Kusnezow, während er alles
beobachtete. Er nahm die durchaus gut aussehende Frau ins Visier
und zielte auf ihren Hinterkopf. Mit einem zweiten Schuss
würde er den Polizisten erledigen. Alle Menschen würden
aufgeregt durch die Gegend springen, Panik würde ausbrechen,
und dieser Mensch, der da am Boden lag, könnte ohne Probleme
fliehen. Der Mann wehrte sich nicht, als man ihm wieder aufhalf.
Ein Polizist fesselte ihn mit Handschellen.
»Was wird er
wohl verbrochen haben?«, fragte sich Kusnezow. Der Mann
musste schon in aller Frühe da gestanden haben, um sich diesen
Platz unmittelbar am Zieleinlauf zu sichern. Er war ihm nicht
aufgefallen. Nun zogen die Polizisten den Mann über die
Ziellinie, vorbei an den etwas überrascht wirkenden
Läufern, die sie kurz zuvor überquert hatten. Sie
verschwanden in einem der Sanitätszelte.
52
Gröber spuckte
seinen Fingernagel über die Straße
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