Marathon
das
Gefühl, ihm würden Flügel wachsen. Es war der Lauf
seines Lebens.
»Haben Sie sich
schuldig gemacht?«, fragte Gröber
angestrengt.
»Wer ist nicht
schuldig? Jeder, der glaubt, etwas verändern zu müssen,
macht sich schuldig.«
»Warum?«
»Weil man das
Leben nicht verbessern kann.«
»Interessanter
Gedanke«, zischte Gröber. »Wollen wir für
diesen philosophischen Diskurs nicht ein wenig hier am
Straßenrand verweilen? Dann können wir ganz in Ruhe
über Ihre und meine Schuld
sprechen.«
»Wissen Sie, ich
habe Randy sehr gerne gehabt.«
Die Aussage
überraschte Gröber, der immer noch nicht wusste, was er
in sein Funkgerät hineinsprechen sollte.
»Ich habe sie
oft im Traum wiedergesehen. Wie sie ganz nackt vor diesem riesigen
Grabstein stand. Sie war noch schöner als sonst. Sie wirkte so
groß und viel stärker als wir alle zusammen. So wie
jemand, der plötzlich ganz genau weiß, was er will und
was zu tun ist. Die völlige Hingabe, verstehen Sie? Und in
diesem Moment völlig unschuldig. Nur noch Zentimeter von der
Wahrhaftigkeit entfernt.« Gassmann brüllte über den
autofreien Ebertplatz. »Der Sieg über den Stillstand. Es
gibt einzelne Sekunden im Leben, Augenblicke, da erscheint alles
klar und ganz eindeutig. Dann fängt man an, darüber zu
reden und nachzudenken. Und mit jedem Wort, mit jedem Gedanken
verschwindet die Wahrheit.«
»Und was ist die
Wahrheit?«, nuschelte Gröber.
»Dass alles gut
ist. Ohne unser Dazutun. Einfach so. Wir müssen nichts
verbessern. So wie der hässliche, dicke Vogel da auf dem
Bordstein, der noch nicht einmal wegfliegt, wenn wir ein paar
Zentimeter an ihm vorbeilaufen.«
Er schlug einen Haken,
um eine Taube am Streckenrand aufzuscheuchen.
»Sie frisst und
scheißt und lässt alles, wie es ist. Alles ist auf das
Notwendigste reduziert. Kein Tier glaubt, es müsse die Welt
verändern. Und wenn Sie das genauso sehen würden,
wären Sie ein glücklicher Mensch. Aber alle unsere
Altersgenossen sind unzufrieden. Ist Ihnen das schon mal
aufgefallen? Wir haben um nichts gekämpft, wir haben nichts
aufgebaut, wir konnten immer alles machen, was wir wollten. Und
was haben wir damit angefangen? Nichts.«
Sein Nebenmann
schnappte nach Luft.
»Wenn wir so
wären wie die Tiere, wären wir unschuldig«,
dozierte Gassmann weiter. »Solange wir nicht nachdenken, sind
wir unschuldig. Aber der Mensch glaubt, er müsse sich
ständig entwickeln und wachsen - wie ein Geschwür. Wir
glauben, wir müssten uns zusammenschließen und Vernunft
walten lassen, damit es den Menschen besser geht. Dabei erreichen
wir aber nur das Gegenteil.«
»So haben Sie
damals auf dem Friedhof nicht gedacht.«
Gassmann überging
Gröbers Einwand. Er wusste selbst, wie lange er gebraucht
hatte, um Klarheit zu finden.
»Lisa Randberg
hat nicht viel gehabt von diesem Sieg über den
Stillstand.«
»Nein. Aber sie
ist nicht umsonst gestorben. Sie hat etwas Großes getan. Der
Versuch, die Tat, ist wichtig, auch wenn man vielleicht auf dem
Holzweg ist. Sie wollte ein Opfer bringen und hat es nicht bei
Worten belassen. Wir haben ihr den Sieg genommen, weil wir keine
Ehrfurcht gezeigt haben. Vor ihr, vor dem Leben, vor ihrem Versuch,
die Wahrheit zu finden. Anstatt mitzugehen, haben wir sie benutzt.
Sie ist verblutet. Einfach so.«
Gröbers Beine
drohten wegzuknicken. Das Seitenstechen, das ihn seit zwei Minuten
quälte, wurde immer stärker. Er musste
aufgeben.
»Also ist sie
doch umsonst gestorben«, rief er leise, während er
stoppte.
Ingo Gassmann drehte
sich im Laufen um, sah wie der Polizist mitten auf der Strecke
stand, sich auf seinen Oberschenkeln abstützen musste und
schwer durchatmete.
»Jetzt nicht
mehr, Herr Gröber. Jetzt nicht mehr.«
Nun sprach der
Polizist endlich ins Funkgerät. Viel mehr als die Bekanntgabe
seiner Kapitulation dürfte Gröber nicht mehr zustande
bringen. Das Schlimmste hatte er hinter sich. Wenn Kilometer
dreißig hinter ihm lag, konnte er den Lauf sicher und
souverän ins Ziel bringen. Doch diesmal fühlte er sich
nicht nur sicher, sondern auch ausgesprochen
gut. Gedankenfetzen schwirrten in seinem Schädel und puzzelten
sich zu neuen Bedeutungen zusammen. Ja, die Maßlosigkeit war
an allem schuld. Die Menschen raffen zusammen, anstatt sich zu
befreien. Man behütet, anstatt zu gestalten. Das ist der
Charakter unserer Generation, egal wo jeder Einzelne gelandet ist,
dachte er. Die Menschen haben sich auf einen großen, faulen
Kompromiss
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