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Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
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guckte. Selbst der übergewichtige Junge hatte
verstanden, dass er ihn besser nicht weiter voll
quatschte.
    Gröber erinnerte
sich an seine jüngste Lauferfahrung im Blücherpark. Das
Laufen ist eigentlich wider die Natur. Die Menschen glauben, etwas
für ihren Körper zu tun. Doch der will das überhaupt
nicht.

50
    Der Körper, diese
Hülle voll lauwarmer Innereien, ist nichts als eine Ansammlung
von Molekülen, die daran gehindert werden, sich in alle
Himmelsrichtungen zu verteilen. Das ist Natur! Nicht das Rennen
über Asphalt. Der Körper lehnt sich die ganze Zeit gegen
diese Strapazen auf. Er will sie nicht, freute sich Gassmann,
während er am Rudolfplatz das Hahnentor rechts liegen
ließ.
    Die Augäpfel
wurden bei jeder Abwärtsbewegung des Fußes nach oben in
die Augenhöhle gedrückt und dort gequetscht. Die
Eingeweide schlugen nach oben gegen die Leber. Die Zentrifugalkraft
des Körpers schleuderte die Gliedmaßen weg, sodass sich
Hände und Finger vom Arm lösen würden, hielten sie
nicht die unnatürlich und ständig gespannten Muskeln des
Unterarms fest. Das ganze Körpergewicht knallte auf das
Fersenbein, wenn das Bein stampfend den Boden berührte.
Sämtliche Knochen im Vorfuß mussten rhythmische und
heftige Stauchungen aushalten - rund tausend Mal pro
Kilometer.
    »Wenn wir Mut
hätten, würden wir einfach zerplatzen.« Er
erinnerte sich an eine weitere wunderbare Stelle aus Celines
»Reise ans Ende der Nacht«. »Tag für Tag
stehen wir kurz davor, zu zerplatzen. Darin ist unsere geliebte
Folter beschlossen, atomar, unter unserer Haut, mitsamt unserem
Stolz.«
    Als er in die
Erftstraße einbog, wusste er, dass er weit über die
Hälfte der Strecke geschafft hatte. »Nur noch
achtzehn«, hatte eine Frau am Straßenrand auf ein
Pappschild geschrieben. Er fühlte sich gut, frisch genug, um
darüber nachzudenken, wie es wäre, jetzt, genau hier,
einfach stehen zu bleiben, laut zu schreien, die Zuschauer und die
Mitläufer anzubrüllen und aufzuhören. Wer hier
aufgibt, kann nicht mehr, ist körperlich am Ende. Wie
wäre es also, aufzugeben, obwohl es ein Leichtes gewesen
wäre, diesen Lauf in persönlicher Bestzeit zu Ende zu
laufen?
    So könnte es
enden. Noch hatte er die Wahl, es genau so zu machen. Doch wer
würde davon Notiz nehmen? Wer würde diese
außergewöhnliche Leistung anerkennen? Keine Zeitung
würde seiner heldenhaften, weisen Tat auch nur einen Satz
widmen. Und er würde nach Hause gehen und nicht wissen, was er
mit der gewonnenen Stärke anfangen sollte. Was nützt die
Erkenntnis, dass es sich nicht mehr lohnt, der Jugend
hinterherzulaufen, wenn man dann herumsitzt und nicht weiß,
was man mit seiner gewonnenen Zeit anfangen soll?
    Dasitzen, während
dir der Tod Gesellschaft leistet, und spüren, wie das Alter
aus jeder Pore kriecht. Du kannst es riechen, du kannst es sehen.
Passt nur einen Moment nicht auf, und plötzlich erwischt es
dich mit aller Gewalt, erklärt dir, dass alles
vergänglich ist, einfach so vorbeigeht, so als wenn es nie da
gewesen wäre.
    Nichts bleibt,
außer dem mühsamen und doch letztlich so kläglichen
Versuch, irgendwo ein paar Spuren zu hinterlassen. Er bildete sich
ein, dass der Asphalt unter seinem gleichmäßigen Schritt
nachgab, damit sich der Abdruck seiner Sohlen in der Fahrspur der
Kölner Ringe abzeichnen konnte. Ein »Walk of Fame«
gewissermaßen. Eine Einbildung vom Wert seines
kümmerlichen Lebens.
    »Wenn ich es mir
genau überlege, habe ich nie wirklich etwas mit ihm anfangen
können«, murmelte er vor sich hin, während sich
sein Tempo verlangsamte.
    Ein junger,
sportlicher Mann zog lächelnd an ihm vorbei und winkte ein
paar Zuschauern, die ihn am Streckenrand
anbrüllten.
    »Du schaffst
es«, blafften sie ihm ins Gesicht, und dem Angesprochenen
schien es tatsächlich zu gefallen.
    Was ist da zu
schaffen?, fragte er sich und versuchte mit dem Mann, der gut zehn
Jahre jünger als er war, mitzuhalten. Hast gut trainiert, dich
zusammengerissen, den Versuchungen ein paar Wochen widerstanden. Na
und?
    Er holte ihn
tatsächlich ein, beschloss, ihn für ein, zwei Kilometer
als Tempomacher zu akzeptieren. Danach würde er ihn
abhängen oder ziehen lassen. Letztlich war es egal. »Nur
noch siebzehn.«

51
    Die Tribünen im
Zielbereich hatten sich schnell gefüllt. Hunderte Menschen
säumten die letzten Meter der Strecke. Der Mann, der offenbar
niemals Ruhe geben wollte, blökte weiter in ein Mikrofon. Was
er sagte, war für Asis Kusnezow nicht zu

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