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Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
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und steckte sich
einen Knopf des Kopfhörers ins Ohr, um dabei zuzuhören,
wie mehrere Kollegen unter der Regie der hörbar genervten
Chrischilles versuchten, den Mann mit der Startnummer 5419 zu
lokalisieren. »Ich brauche nur eine ungefähre Zeit und
die Farbe seines Trikots«, hatte er ihnen gesagt. »Dann
werde ich ihn schon finden.« Sicher war er sich dabei jedoch
nicht. 
    Hunderte durften schon
an ihm vorbeigelaufen sein, seitdem er hier stand. Er war
überrascht über das Tempo, das die meisten auch noch nach
dreißig Kilometern an den Tag legten. Diejenigen, die hier
vom Mann mit dem Hammer eins über die Rübe bekommen,
würden sicher erst viel später kommen. All die Luschen
und schlappen Würste, denen nichts Besseres eingefallen war,
als ihre kostbare Zeit mit selbst gewählten Qualen zu
verbringen.
    Er erfreute sich an
dem Anblick einer Frau, deren Brüste im Rhythmus ihrer Beine
auf und nieder platschten. Im Radio hatte ein Schlaumeier
erzählt, dass Frauen bei Marathon-Veranstaltungen lange Zeit
nicht mitmachen durften. Dafür musste es einen guten Grund
geben, überlegte Gröber. Unsere Vorfahren hatten sich
ernsthaft Sorgen um ihr Wohl gemacht.
    Doch wer die Wahrheit
über den ganzen Unsinn erfahren wollte, musste noch weiter in
der Zeit zurückgehen, wie er seit dem Radiobericht wusste. Im
vorletzten Jahrhundert waren Läufer von Kindern mit Kot und
Abfall beworfen wurden, wenn sie durch die Straßen liefen.
Eine hübsche Vorstellung. Niemand hatte Verständnis
für das sinnlose Herumgerenne gehabt. Der Läufer war ein
gesellschaftlicher Außenseiter.
    Gröber meinte,
dass auch zu seiner Jugendzeit Beschimpfungen und blöde Witze
über Läufer noch durchaus üblich gewesen waren.
»Und eins und zwei, und eins und zwei.« Der
Dauerläufer war Teil der »Trimm dich«-Bewegung,
die »Trimm dich«-Pfade in deutsche Wälder
gepflanzt hatte und über Baumstämme im Bocksprung
hüpfte und sich über Flüsse hangelte. Welche
Verschwendung. Damals waren Laufschuhe noch keine Hightechprodukte,
sondern Turnschuhe, es gab noch keine Fitness-Studios mit
Laufbändern und keine dicken Frauen mit hautengen Neontrikots,
die einem vor die Füße stolperten. Der Läufer galt
als exotisch-asketischer Gesundheitsapostel.
    Warum sollten sich die
Leute in früheren Zeiten geirrt haben? Vielleicht war es
richtig, Läufer mit Kot zu bewerfen, weil sie die Gesetze der
Natur brechen wollen?
    »Wir haben
ihn!«, quakte eine Männerstimme durchs Funkgerät.
»Er läuft die Amsterdamer Straße hoch. Kilometer
siebenundzwanzig, so ungefähr, hat uns ein Streckenposten
gesagt. Er trägt ein rotes Hemd und 'ne schwarze Hose. Sieht
ein bisschen wie ein Fußballer aus.«
    »Dann kann sich
der schnelle Bernd ja schon mal warm laufen«, blökte es
durch den Funk, worauf allgemeine Heiterkeit im Funkverkehr
ausbrach. Die Leitstelle mahnte erfolglos zur
Funkdisziplin.
    »Gröber«,
hörte er jetzt Chrischilles. »Hast du das
mitbekommen?«
    Er zog das
Funkgerät aus der Tasche, was seine dicken Nachbarn schwer zu
beeindrucken schien.
    »Ich hab's
gehört. Was hört man denn von Remmer
so?«
    »Die ist
kurzzeitig vom Ordnungspersonal des Marathons unsanft in Gewahrsam
genommen worden. Wir mussten bei der Identifizierung unserer Chefin
helfen. Mehr weiß ich noch nicht. Sie hat sich noch nicht
wieder gemeldet.«
    Gröber wusste
immer noch nicht, wie er Gassmann ansprechen und zum Aufgeben
überreden sollte. Warum sollte Gassmann das tun? Mit welchen
Argumenten würde er ihn überzeugen können? Mit ein
paar Hirngespinsten?

53
    Remmer brüllte
Randberg an. Der Mann trug einen Arm in einer selbst gebundenen
Schlinge, auch die Prellungen im Gesicht hatte er ganz
offensichtlich nicht behandeln lassen. Ihm fehlte ein Schneidezahn.
Die Sanitäter hatten ihm die Schuhe ausgezogen und damit
begonnen, Verstauchungen und Quetschungen an beiden Beinen zu
behandeln. Randberg sah schlimm aus, und doch war unverkennbar,
welche Kraft in diesem Mann steckte. Sein ramponierter Körper
schien wie eine unbedeutende Hülle für einen
unbezwingbaren Willen, der ihm half, Schmerzen und Verletzungen zu
ignorieren.
    »Der Mann muss
ins Krankenhaus.« Einer der jungen Helfer versuchte, bei
Remmer Gehör zu finden.
    »Das hat er in
den letzten Tagen auch nicht für nötig gehalten«,
schrie sie. »Also bleibt er hier, bis er mir sagt, was er da
draußen wollte.«
    Randberg starrte
regungslos auf seine Knie, während Remmer nervös im Zelt
auf und ab ging. Sie

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