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Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
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Nachbarn, zu dessen Schutz er hier in Winterjacke durch die
Stadt rannte und dem nichts Besseres einzufallen schien, als mit
ihm über das Alter zu philosophieren. Doch dann erkannte er
seine Chance, mit ein paar Worten zu erzwingen, dass Gassmann sein
Tempo drosseln musste.
    »Ich habe nie in
meinem Leben versucht, auf einem Friedhof den Teufel zu
beschwören, und dabei mit einem Säbel einer Frau die Arme
aufgeschnitten.«

55
    Gassmann schoss das
Blut in den Kopf, sein Blick trübte sich. Für einen
Moment fürchtete er, die Kontrolle über seinen
Körper zu verlieren. Er wurde langsamer, nahm seine Umwelt nur
noch wie ein
Film in Zeitlupe wahr. Die Polizei hatte ihn in Zusammenhang mit
dem Tod des blutenden Engels gebracht. Er spürte, wie sein
Puls im Hals schlug, so als wenn der Blutstrom, der den Sauerstoff
durch seinen Körper pumpte, zu einem ihn zerreißenden
Strom werden würde, seine Adern zum Platzen bringen wollte. Er
atmete tief ein und aus, schnappte regelrecht nach Luft, zwang sich
zur Konzentration auf die Bewegung und zu einem klaren Gedanken.
Irgendeinem klaren Gedanken. »Wir haben das Maß
verloren«, hatte er in das erstaunte Gesicht der
Läuferin im blauen Trikot gerufen. Das war ein klarer Gedanke.
»Wer das Maß verliert, verliert die Kraft. Deshalb geht
die Welt zugrunde.« Er fasste wieder Tritt. Nur ein kleiner
Durchhänger. Was wollte dieser Polizist eigentlich von ihm?
Was wusste er schon?
    »Es war
Selbstmord«, sagte er mit fester Stimme. Die Anspielung auf
Lisa hatte ihn nur für einen Augenblick verunsichern
können. Er zog sein Tempo wieder an. Das wäre doch
gelacht. Für wie blöd hielt dieser Polizist ihn
eigentlich, der da neben ihm herhetzte? Das war amüsant. Unter
Polizeischutz zum persönlichen Rekord. Nur schwach drangen die
Worte seines unsportlichen Nachbarn zu ihm, der weiter auf ihn
einredete.
    »Ich werde nicht
aufgeben«, sagte er bestimmt. »Das sollten besser Sie
tun.«
    Gröber
brüllte ihn an: »Mensch! Seien Sie doch
vernünftig!«
    Was für ein
dummer Satz.
    »Was ist schon
Vernunft, mein Lieber?«, fragte Gassmann lächelnd.
»Haben Sie mal nach ihr gesucht?«
    »Täglich«,
brummte Gröber.
    »Ach wirklich?
Habe ich hinter mir. Ich habe sie überall gesucht. Im
Physischen, im Metaphysischen, in der Liebe und im Wahn. Ich habe
sie nicht gefunden.«
    Sie erreichten eine
Verpflegungsstation. Staunende Helfer starrten sie an, als sich
sein Begleiter in Winterjacke und Jeans einen Becher mit Wasser
schnappte, um im Feld der mit Startnummern behängten
Marathonläufer weiter durch die Stadt zu rennen.
    »Sie irren
sich!«, rief Gröber. »Ich kann Ihnen zum Beispiel
sagen, dass das, was ich hier mache, völlig unvernünftig
ist.«
    »Sagt das Ihr
Verstand oder Ihr Gefühl?«
    Der Polizist
ließ sich nicht so leicht provozieren. Gassmann versuchte es
ein weiteres Mal. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was
Sie mit Ihrem Verstand und Gefühl angefangen haben in ihrem
Leben? Von mir wissen Sie immerhin, dass ich mal auf einem Friedhof
gestanden und geglaubt habe, man könnte den Satan
herbeibeschwören.«
    »Mein Leben geht
Sie einen Scheiß an.« Jetzt ging seinem Begleiter
offensichtlich die Puste aus. Er sah, wie Gröber versuchte,
sein Funkgerät aus der Tasche zu ziehen.
    »Wenn ich mir so
manchen in unserem Alter ansehe und anhöre, frage ich mich,
wohin unsere Generation die Welt bringen wird. Fatalistisch und
egoistisch. Wir besaufen uns beim Abiturtreffen, um dann über
das Leid der Welt zu lamentieren. ›Man müsste‹,
›man sollte‹, ›man könnte doch mal
…‹ und all dieser Quatsch. Und am nächsten
Morgen zieht man mit einem Kater achselzuckend wieder in sein
Büro. Was bleibt vom gesunden Menschenverstand übrig,
wenn ihn keiner mehr benutzt? Keine Zeit, keine Lust, Hauptsache,
alles schön bequem. Alles schön zurechtgemacht, alles
schön verdrängt und weggeräumt, was stören
könnte.«
    Gröber fuchtelte
mit dem Funkgerät herum, tippte ihm mit der kleinen Antenne
auf den Arm.
    »Wissen Sie, was
ich glaube, Mann? Sie haben sie nicht mehr alle.«
    »Man sagt doch
immer, es sei zum Verrücktwerden. Warum wird man es nicht
einfach? Vielleicht wäre dann vieles einfacher. Lassen Sie
sich einweisen, treten Sie einem Arzt vors Schienbein und packen
Sie einer Schwester unter den Rock. Sie kommen so bald nicht wieder
raus. Und sind Sie auf einmal ganz nah dran: Schluss mit der
Hetzerei, keine Verantwortung mehr, keine Schuld.«
    Gassmann hatte

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