Marco Polo der Besessene 1
einen
Schmollmund, als ich dankte, und ich fragte sie, warum.
»Wißt Ihr«, flüsterte sie und lehnte sich so nahe an mich, daß
der Kutscher es nicht hören konnte, »daß dies die verbotene
Frucht ist, mit der Eva Adam verführte?«
»Ich ziehe die Verführung ohne die Frucht vor«, erwiderte ich
im Flüsterton. »Und wo wir schon davon sprechen...«
»Ich habe Euch gesagt, Ihr solltet nicht davon reden. Nicht vor
heute abend.«
So versuchte ich im Laufe dieser vormittäglichen Spazierfahrt
das Thema noch mehrere Male zur Sprache zu bringen, doch
jedesmal ging sie darüber hinweg und sprach mich nur an, um
mir dieses oder jenes von Interesse zu zeigen und mir
Aufschlußreiches darüber zu erzählen.
Sie sagte: »Hier sind wir im bazär, in dem Ihr ja bereits
gewesen seid. Doch vielleicht erkennt Ihr ihn jetzt, wo er so leer
und verlassen und schweigend daliegt, gar nicht wieder. Das
liegt daran, daß heute jume ist - Freitag, wir ihr es nennt -und
diesen Tag hat Allah zum Ruhetag erklärt. An diesem Tag
werden keine Geschäfte gemacht und wird nicht gearbeitet.«
Und sie sagte: »Das grasbewachsene Feld dort drüben ist ein
Friedhof, den wir ›Stadt der Schweigenden‹ nennen.« Und sie sagte: »Das große Gebäude dahinten ist das Haus der Enttäuschung, eine Wohlfahrtseinrichtung, die mein Vater, der Shah, ins Leben gerufen hat. Darin werden alle diejenigen verwahrt und gepflegt, die den Verstand verloren haben, wie das vielen in der Sommerhitze ergeht. Sie werden regelmäßig von einem hakim untersucht, und wenn sie jemals wieder zu Verstand kommen, werden sie wieder freigelassen.«
In den Außenbezirken der Stadt rollten wir über eine Brücke, die über einen kleinen Bach hinwegführte, dessen Wasserfarbe mich betroffen machte -ein höchst ungewöhnliches Tiefblau. Dann kamen wir über einen anderen Bach hinüber, der von einem für Wasser höchst uncharakteristischen leuchtenden Grün war. Doch erst als wir über einen dritten hinwegfuhren, der von blutroter Farbe war, machte ich eine entsprechende Bemerkung.
»Die Gewässer sämtlicher Bäche hier draußen werden von den Farbstoffen getrübt, mit denen man die Wolle für die ^«//-Herstellung färbt. Ihr habt noch niemals gesehen, wie ein qali entsteht?« fragte die Prinzessin. »Das müßt Ihr sehen.« Mit diesen Worten gab sie dem Kutscher ein bestimmtes Ziel an.
Ich hätte erwartet, daß es zurückginge nach Baghdad und dort in irgendeine städtische Werkstätte, doch der Karren fuhr nur noch weiter ins Land hinaus und hielt neben einem Hügel, der in halber Höhe einen Höhleneingang auf wies. Falter und ich kletterten von unserem Gefährt herunter, stiegen hügelan und bückten uns, um durch das Loch hineinzukommen.
In gebückter Haltung mußten wir durch einen kurzen dunklen Gang hindurch, doch dann traten wir im Hügelinneren in eine hochgewölbte Felshöhle voller Menschen, deren Boden mit Arbeitstischen und -bänken und Krügen mit Farblösungen bedeckt war. In der Höhle war es dunkel, bis meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, das von zahllosen Kerzen und Lampen und Fackeln verbreitet wurde. Die Lampen waren auf allen möglichen Einrichtungsgegenständen abgestellt, die Fackeln in gewissen Abständen in die Felswand hineingesteckt und die Kerzen mit Hilfe des von ihnen heruntertropfenden Wachses auf die Felsen geklebt. Andere Kerzen wurden von den vielen, vielen Arbeitern mit den Händen getragen.
Ich sagte zu der Prinzessin: »Ich dachte, dies sei ein Ruhetag.« »Für die Muslime«, entgegnete sie. »Dies hier sind Sklaven
christliche Russniaken und dergleichen. Sie dürfen den ihnen zustehenden Ruhetag am Sonntag feiern.« Nur bei wenigen der Sklaven handelte es sich um erwachsene
Männer und Frauen. Diese waren mit bestimmten Aufgaben auf dem Boden beschäftigt, wie dem Umrühren von Färbemitteln in Töpfen. Alle anderen waren Kinder, die ihre Arbeit verrichteten, während sie gleichsam in der Luft schwebten. Das mag sich anhören wie eine der Geschichten der Shahryar Zahd, entsprach aber der Wahrheit. Von der hohen Kuppel der Höhle hing ein gewaltiger, aus Hunderten von parallel und dicht nebeneinander verlaufenden Schnüren bestehender Kamm herunter, ein vertikal verlaufendes Webnetz, das die gesamte Höhe und Breite der Höhle ausfüllte. Es lag für mich als Betrachter auf der Hand, daß es sich offensichtlich um die Kettenfäden für einen qali handelte, der -war er
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