Marco Polo der Besessene 1
erst einmal fertiggestellt -ein riesiges Palastgemach oder einen ganzen Tanzsaal ausfüllen würde. Hoch oben vor dieser Wand aus Kettenfäden hing in Seilschlingen, die aus irgendeiner noch höheren dunklen Höhe herunterhingen, eine ganze Kinderschar.
Die kleinen Jungen und Mädchen waren allesamt nackt -der Hitze dort oben wegen, wie Prinzessin Falter mir erklärte -, und sie waren über die gesamte Breite der Kette, nur in unterschiedlicher Höhe davor aufgehängt, manche höher und manche niedriger. Hoch droben war der qali zum Teil bereits fertiggestellt. Vom oberen Rand bis hinunter zu jener Ebene, auf der die Kinder am Werk waren; selbst in diesem frühen Stadium konnte ich bereits erkennen, daß es sich um einen qali mit einem höchst verschlungenen bunten Gartenmuster handelte. Ein jedes der dort oben schwebenden Kinder trug auf dem Kopf festgeklebt einen Wachsstock. Alle waren sie emsig beschäftigt, doch womit, konnte ich nicht genau erkennen: Es
sah so aus, als zupften sie am unteren Rand des qali herum. Die Prinzessin sagte:»Sie schlingen die Fäden der Kette um die Schußfäden herum und durch sie hindurch. Jeder Sklave hält ein Weberschiffchen sowie eine Docke Faden von einer einzigen Farbe in der Hand. Er oder sie webt es hindurch und zieht fest, und zwar in der Reihenfolge, wie das Muster es erfordert.«
»Aber wie um alles in der Welt«, fragte ich, »kann ein Kind wissen, wann und wo es sein Teil dazu beitragen muß -dazu sind es doch viel zu viele andere Sklaven und Fäden und handelt es sich um ein so verworrenes Muster?«
»Das gibt ihnen der qali-Meister mit seinem Gesang an«, sagte sie. »Unsere Ankunft hat ihn unterbrochen. Da, jetzt fängt er wieder an.«
Es war wundersam anzusehen. Der qali-Meister genannte Mann saß vor einem Tisch, auf dem ein gewaltiges Stück Papier ausgebreitet lag. Darauf waren in gerader Linie nebenund untereinander unzählige kleine Quadrate eingezeichnet, denen gleichsam eine Zeichnung des gesamten Musters übergestülpt war, den der Teppich haben sollte, und in den winzigen Quadraten war jeweils die Farbe angedeutet, die der betreffende Teil bekommen sollte. Von dieser Vorlage nun las der qali-Meister ab, was er dann in einem Singsang von sich gab, der etwa folgendermaßen ging:
»Eins, Rot!... Dreizehn, Blau!... Fünfundvierzig, Braun!...«
Nur, daß dieser Singsang weit vertrackter war, als es sich hier anhört. Erstens mußte er oben dicht unterm Dach der Höhle noch zu
hören sein und zweitens von jedem angerufenen Jungen und Mädchen genau verstanden werden -und mußte zudem noch in einem bestimmten Takt und mit einer Modulation der Stimme vorgetragen werden, daß sie alle in einem eigentümlichen Rhythmus zusammenwirkten. Während die Wörter sich an ein Sklavenkind nach dem anderen aus einer großen Vielzahl richteten und ihnen begreiflich machten, wann sie ihr
Weberschiffchen einsetzen sollten, wurde ihnen durch Höhe
oder Tiefe der Stimmlage -also das, was den eigentlichen
Gesang ausmachte -bedeutet, wie weit sie den Schuß durch
die Kettenfäden hindurchzuführen und wo sie einen Knoten zu
schlingen hatten. Auf diese wirklich wundersame Arbeitsweise
sollten die kleinen Sklaven den qali Faden um Faden und Reihe
um Reihe bis tief hinunter zum Höhlenboden fertigstellen, und
wenn er fertig war, sollte er genauso vollkommen anzusehen
sein, als hätte ein einziger Künstler ihn gemalt.
»Allein dieser eine qali kann viele Sklaven kosten«, sagte die
Prinzessin, als wir uns anschickten, die Höhle wieder zu
verlassen. »Die kleinen Knüpfer müssen möglichst jung sein,
damit sie nicht viel wiegen und kleine flinke Finger haben. Aber
es ist nicht einfach, so kleinen Kindern ein so
verantwortungsvolles Arbeiten beizubringen. Auch schwinden
ihnen in der Hitze dort oben häufig die Sinne, dann stürzen sie
ab und brechen sich die Knochen oder sie sterben. Leben sie
aber lange genug, kann man fast sicher sein, daß sie aufgrund
der Arbeit und des schlechten Lichtes erblinden. Und für jedes
Kind, das ausfällt, muß selbstverständlich ein anderes, bereits
ausgebildetes zum Einspringen bereitstehen.«
»Jetzt kann ich verstehen«, sagte ich, »warum selbst der
kleinste qali so kostbar ist.«
»Aber stellt Euch vor, was einer kosten würde«, sagte sie, als
wir wieder ins Sonnenlicht hinaustraten, »wenn wir richtige
Menschen benutzen müßten.«
Der Karren brachte uns zurück zur Stadt, die wir
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