Marco Polo der Besessene 1
ein
einziges Mal im Jahr. Da auch noch die Blütezeit äußerst kurz
ist, müssen viele Pflücker auf einmal arbeiten und sehr fleißig
sein. Ich weiß nicht, wie vieler zonte Land und wie vieler Hände
es bedarf, um auch nur einen Safranziegel pro Jahr
hervorzubringen -aber du verstehst jetzt wohl, warum Safran
so unendlich kostbar ist.«
Davon war ich inzwischen überzeugt. »Und wo kaufen wir den
Safran''«
»Kaufen tun wir überhaupt keinen. Wir bauen ihn an.« Er legte
noch etwas anderes neben den Ziegel; ich hätte gesagt, dass
es sich um eine ganz gewöhnliche Knoblauchzwiebel handelte.
»Das hier ist die Krokuszwiebel. Die Compagnia Polo baut sie
an und gewinnt aus ihren Blüten den Safran.«
Ich war verwirrt. »Doch aber gewiß nicht hier in Venedig«
»Selbstverständlich nicht. Aber auf der temferma, dem Festland
südwestlich von hier. Ich habe dir ja gesagt, man braucht dazu
viele, viele zonte Land.«
»Das habe ich nicht gewußt«, sagte ich.
Er lachte. »Vermutlich weiß nicht mal die Hälfte der Bewohner
Venedigs, dass die Milch und die Eier, die sie trinken und
essen, von Tieren stammen, und dass diese Tiere auf
trockenes Land angewiesen sind, um zu gedeihen. Wir
Venezianer neigen dazu, außer unserer Lagune, der See und
dem Ozean nichts recht Aufmerksamkeit zu schenken.«
»Seit wann machen wir das denn schon, Doro? Krokus
anbauen und Safran gewinnen, meine ich?«
Er zuckte mich den Achseln. »Seit wann gibt es die Polo in
Venedig? Jedenfalls hat einer deiner Vorfahren schon vor sehr
langer Zeit eine geradezu geniale Nase bewiesen. Nach dem
Niedergang Roms wurde Safran zu einem solchen Luxusartikel,
dass man einfach nicht mehr daran dachte, ihn anzubauen.
Kein Bauer konnte es sich leisten, genug Krokus zu kultivieren,
damit es sich lohnte. Nicht einmal die Großgrundbesitzer
konnten es sich leisten, all die Arbeiter zu bezahlen, die man
brauchte, um die Safranernte einzubringen. Infolgedessen
geriet Safran praktisch in Vergessenheit. Bis irgendein früher
Polo sich daran erinnerte und sich sagte, dass das moderne
Venedig nicht umsonst über fast genauso viele Sklaven
verfügte wie das alte Rom. Selbstverständlich müssen wir
unsere Sklaven heutzutage kaufen und können sie nicht
einfach so einfangen. Aber das Einsammeln der Safrannarben ist keine sonderlich anstrengende Arbeit. Dazu braucht man nicht unbedingt die teuren kräftigen männlichen Sklaven. Dazu genügen schon Frauen und Kinder; Schwächlinge und sogar Krüppel können diese Arbeit verrichten. Folglich haben deine Ahnen sich mit diesen billigen Sklaven eingedeckt, und dabei ist die Compagnia Polo seither geblieben. Diese Sklaven sind ein bunt zusammgenwürfelter Haufe; sie kommen aus aller Herren Länder und tragen jede nur denkbare Hautfarbe: Mohren, Nubier, Zirkassen, Russniaken und Armenier, doch ihre Hautfarben verschmelzen gleichsam zu diesem rotgelben Safran.«
»Der Grundlage unseres Reichtums«, wiederholte ich. »Jedenfalls läßt sich alles andere damit bezahlen, was wir verkaufen«, sagte Isidoro. »Ja, gewiß, wir verkaufen auch Safran -sofern der Preis stimmt -als Gewürz, als Färbemittel, Parfüm und Arznei. Doch im wesentlichen bildet Safran das Kapital unserer Compagnia, gegen das wir alle anderen Waren eintauschen, von Salz aus Ibiza bis zu Leder aus Cordoba und Weizen aus Sardinien. Genauso, wie das Haus Spinola in
Genua das Monopol auf den Rosinenhandel besitzt, so besitzt das venezianische Haus Polo das auf den Handel mit Safran.« Der einzige Sohn des venezianischen Hauses Polo dankte dem
alten Schreiber für diese erbauliche Unterweisung in hohem Handel und kühnem Unternehmertum -und zog wie üblich danach ab, um sich wieder der angenehmen Lässigkeit der Hafenrangen in die Arme zu werfen.
Wie ich bereits gesagt habe, neigten diese Kinder dazu, zu kommen und zu gehen; nur selten kam es vor, dass von einer Woche zur anderen ein und dieselbe Bande in dem alten, aufgelassenen Schleppkahn lebte. Genauso wie der erwachsene popoläzo, träumten auch die Kinder von einem Schlaraffenland, wo sie der Arbeit in Luxus statt im Elend aus dem Wege gehen konnten. So konnte es sehr wohl sein, dass sie irgendwo von einem Ort hörten, der ihnen bessere Aussichten bieten sollte als der Hafen von Venedig, und sie sich daraufhin in irgendeinem Schiff versteckten, um als blinde Passagiere dorthin zu gelangen. Einige von ihnen kehrten manchmal nach einer
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