Marco Polo der Besessene 1
waren.
»Was? Du führst immer noch den Krieg der Priester?« höhnte
er. »Du hast noch nie ein Mädchen gehabt?«
Wieder begriffsstutzig, fragte ich zurück: »Den Krieg der
Priester?«
»Fünf gegen einen«, sagte Doris, ohne zu erröten. Und fügte
noch hinzu: »Du mußt dir eine smanza anschaffen. Eine
willfährige Freundin.«
Ich dachte darüber nach und sagte: »Ich kenne aber keine
Mädchen, die ich darum bitten könnte. Bis auf dich, und du bist
noch zu jung.«
Woraufhin sie die Beleidigte spielte und wütend sagte: »Meine
Artischocke ist bis jetzt vielleicht noch unbehaart, aber ich bin
zwölf, und das heißt, längst heiratsfähig.«
»Ich will aber niemand heiraten«, verwahrte ich mich. »Ich will
doch nur...«
»Kommt nicht in Frage!« fiel Ubaldo mir ins Wort. »Meine
Schwester ist ein braves Mädchen.«
Der Leser mag lächeln bei der Behauptung, ein Mädchen, das
sich einer Sprache befleißigte wie sie, könne ein »braves«
Mädchen sein. Doch sieht man hier den Beweis dafür, dass
Ober-und Unterschicht zumindest eines gemeinsam haben: die
Hochachtung, die beide der Jungfräulichkeit eines Mädchens
entgegenbringen. Bei den lustrisimi wie beim popolazo zählt sie
weit mehr als alle anderen weiblichen Qualitäten wie Schönheit,
Zauber, Liebreiz, Zurückhaltung oder was sonst. Ihre Frauen
mögen unschön und boshaft sein, sich nicht ausdrücken
können und schlampig sein -Hauptsache ist, jenes kleine Stück Haut, das Jungfernhäutchen, ist unangetastet. Darin zumindest sind selbst die primitivsten und barbarischsten Wilden des Fernen Ostens uns überlegen: Sie schätzen Frauen anderer Attribute wegen als jenes Pfropfens, mit dem sie verschlossen sind.
Bei unserer Oberschicht hat die Jungfräulichkeit weniger mit Tugend als mit einem guten Geschäft zu tun; dort betrachtet man eine Tochter mit der gleichen kühlen Berechnung wie ein Sklavenmädchen auf dem Markt. Eine Tochter oder eine Sklavin erbringt -darin einem Faß Wein gleich - einen besseren Preis, wenn sie versiegelt und nachweislich unberührt sind. So verschachern sie ihre Töchter um geschäftlicher Vorteile oder gesellschaftlichen Aufstiegs willen. In der Unterschicht hingegen ist man so töricht zu glauben, dass die über ihnen Stehenden der Jungfräulichkeit einen hohen moralischen Wert zuerkennen, und so versucht man, es ihnen darin gleichzutun. Auch läßt man sich dort leichter durch das Donnergrollen der Kirche ins Bockshorn jagen, und die Kirche verlangt die Bewahrung der Jungfräulichkeit gleichsam als Negativbeweis für Tugendhaftigkeit, etwa so, wie gute Christen sich auch dadurch als tugendhaft beweisen, dass sie während der Fastenzeit vom Fleischgenuß Abstand nehmen.
Doch selbst damals schon, da ich noch ein Knabe war, habe ich mich immer wieder gefragt, wie viele Mädchen -egal, welcher Schicht sie angehören -wirklich aufgrund der herrschenden gesellschaftlichen Normen und Einstellungen bewogen werden, »brav« zu bleiben. Von dem Alter an, da mir der erste Flaum »auf meiner Artischocke« sproß, hatte ich mir von Fra Varisto wie von Zia Zulia Predigten darüber anhören müssen, welche moralischen und körperlichen Gefahren mir drohten, wenn ich mit schlechten Mädchen verkehrte. Ich lauschte ihren Beschreibungen solch abscheulicher Geschöpfe mit gespannter Aufmerksamkeit und hörte mir ihre Warnungen und Ermahnungen ebenso an wie die Verteufelungen, mit denen sie sie überhäuften. Mir war sehr daran gelegen, ein solches schlechtes Mädchen auf den ersten Blick zu erkennen, weil ich inständig hoffte, möglichst bald einem solchen zu begegnen. Die Wahrscheinlichkeit dazu schien groß, denn dem allgemeinen Eindruck nach, den diese Predigten bei mir hinterließen, mußte es weitaus mehr schlechte als brave Mädchen geben.
Dieser Eindruck wird noch durch anderes bestärkt. Venedig ist keine sonderlich saubere Stadt, einfach deshalb, weil es das nicht zu sein braucht. Was immer die Stadt absondert, verschwindet sofort in den Kanälen. Straßenschmutz, Küchenabfälle, der Inhalt von Nachtgeschirren und Aborten alles wird in den nächstgelegenen Kanal geworfen oder eingeleitet und alsbald fortgespült. Die Flut kommt zweimal täglich, rauscht auch noch durch den geringsten Wasserweg, wühlt auf, was immer sich auf seiner Sohle abgelagert hat oder an den Wänden der Kanäle festsetzen will. Geht die Tide zurück, nimmt sie alle diese Substanzen mit und trägt
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