Marco Polo der Besessene 1
Weile zurück, entweder, weil sie ihr Ziel nicht erreichen konnten, oder aber, weil sie enttäuscht worden waren. Andere jedoch kehrten nie zurück, entweder, weil das Schiff -soweit wir wußten -gesunken und sie ertrunken waren, oder aber, weil man sie faßte und in irgendein Waisenhaus steckte, oder aber vielleicht auch deshalb, weil sie le paese di Cuccagna -eben ihr Schlaraffenland -gefunden hatten und dort geblieben waren.
Doch Ubaldo und Doris Tagiabue blieben immer dabei, und sie waren es, von denen ich am meisten Lebensweise und Sprache der Unterschicht erlernte. Was ich hier lernte, wurde mir nicht gewaltsam eingetrichtert, so wie Fra Varisto seinen Schuljungen lateinische Konjugationen beibrachte; vielmehr fütterten Bruder und Schwester mich gleichsam stückchenweise damit, so, wie ich sie verdauen konnte und wie ich ihrer bedurfte. Wann immer Ubaldo hohnlachte über irgendeine Rückständigkeit oder verblüffte Reaktion meinerseits, ging mir auf, dass mir irgendein Stück Wissen fehlte, das Doris mir dann unweigerlich zur Verfügung stellte.
So erinnere ich mich, dass Ubaldo eines Tages sagte, er wolle auf die Westseite der Stadt hinüber, und zwar mit der Hundefähre. Davon hatte ich noch nie gehört, und so ging ich mit, um zu sehen, was für eine merkwürdige Art Boot er meinte. Dabei überquerten wir den Canale Grande auf ganz alltägliche Weise, nämlich über die Rialto-Brücke, und ich muß wohl ein enttäuschtes Gesicht gemacht oder ziemlich verdutzt ausgesehen haben, denn er spottete: »Du bist wirklich dumm wie ein Eckstein!«, woraufhin Doris erklärte:
»Es gibt nur eine Möglichkeit, vom Ostteil in den Westteil der Stadt zu gelangen, no? Man muß einfach über den Canale Grande rüber. Katzen dürfen mit dem Boot hinüber, weil sie Ratten fangen, aber Hunde dürfen das nicht. Folglich können Hunde nur auf der Ponte Rialto über den Canale Grande rüber, und so nennt man den die Hundefähre, no xe vero?«
Manches von ihrem Gassenjargon konnte ich ohne fremde Hilfe übersetzen. So nannten sie jeden Priester und Mönch unweigerlich le riguso, was soviel heißt wie ›der Steife‹, doch dauerte es nicht lange, bis ich merkte, dass sie im Grunde nichts weiter taten, als das Wort religioso -frommer Bruder oder Mönch -ein wenig zu verdrehen und ihm dadurch zusätzlich noch eine leicht veränderte Bedeutung zu geben. Verkündeten sie bei schönem Sommerwetter, sie zögen von dem Lastkahn um in La Locanda de la Stela, wußte ich, dass sie im sternenerhellten Gasthaus abzusteigen gedachten oder, mit anderen Worten, vorhatten, die Nacht im Freien zu verbringen. Sprachen sie von einer Frauensperson per largazza, war das ein Wortspiel mit dem richtigen Ausdruck für Mädchen ragazza -, ließen aber roh durchblicken, dass sie mit großem, so nicht gar mächtigem Geschlechtsteil ausgestattet sei. Wahr ist übrigens, dass die Sprache der Hafenbewohner -und damit auch weitgehend ihr Gesprächsstoff überhaupt -von derlei indelikaten Themen beherrscht wurde. Ich nahm eine Menge von Informationen in mich auf, was jedoch manchmal mehr dazu beitrug, mich zu verwirren, als mich aufzuklären.
Zia Zulia und Fra Varisto hatten mich angehalten, das Ding zwischen meinen Beinen -falls es unbedingt sein mußte, dass ich davon sprach -als le vergogne -die Schamteile -zu bezeichnen. Im Hafen lernte ich andere Bezeichnungen dafür kennen. Der Ausdruck bagaglio -Gepäck -für die Geschlechtswerkzeuge des Mannes sprach für sich selbst, und candehto -von candela, Kerze -war eine passende Bezeichnung für sein Organ in aufgerichtetem Zustand; desgleichen fava für das knollige Ende dieses Glieds, das ja in der Tat von ferne aussieht wie eine große Bohne, und capela für Vorhaut, welche ja die fava einhüllt wie ein kleiner Mantel oder eine kleine Kapelle. Unerfindlich blieb mir, warum man das Geschlechtsorgan der Frau manchmal als lumagheta bezeichnete. Soviel ich wußte, hatten Frauen dort unten nichts weiter als eine Öffnung; das Wort lumagheta kann entweder eine kleine Schnecke bedeuten oder aber jenen winzigen Pflock, mit dem Spielleute die einzelnen Saiten ihrer Laute zupfen.
Ubaldo, Doris und ich waren eines Tages gerade dabei, auf dem Landesteg zu spielen, als ein Gemüsehändler seinen Karren die Esplanade entlangschob, woraufhin die Frauen der Hafenbewohner herzuwatschelten, um prüfend seine Waren in die Hand zu nehmen und abzutasten. Eine der Frauen fingerte an einer dicken gelben Gurke herum, grinste und
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