Marco Polo der Besessene 1
aufbringen.
In dem großen gewölbten Schiff kam ich mir winzig vor wie ein Käfer; das viele schimmernde Gold und der Marmor sowie die erlauchten heiligen Gestalten hoch oben in den Deckenmosaiken machten mich ganz klein. Alles in diesem unübertrefflich schönen Bauwerk übersteigt das Gewohnt-Alltägliche, nicht zuletzt auch die volltönende Musik, die wiehernd und blökend einem rigabelo entweicht, das einem viel zu klein vorkommt, als dass es soviel Klänge enthalten könnte. San Marco ist immer voll von Menschen, und so mußte ich vor einem der Beichtstühle Schlange stehen. Schließlich war ich an der Reihe und begann, mir alles von der Seele zu reden, indem ich sagte: »Vater, ich bin meiner Neugier ungebührlich gefolgt, und sie hat mich vom Pfad der Tu gend abgebracht...« In dieser Tonart ging es eine Weile weiter, bis der Priester ungeduldig erklärte, er wolle nicht alle Begleitumstände hören, die zu meinen Missetaten geführt hätten. Infolgedessen griff ich, wenn auch widerstrebend, auf die alte Formel zurück -»... habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten« -, woraufhin er mir gebot, ein paar Paternoster und Avemarias zu beten. Ich verließ den Beichtstuhl, um damit zu beginnen, und da traf es mich wie ein Blitz.
Das meine ich fast wörtlich, so sehr durchfuhr es mich, als ich das erste Mal Dona Ilaria erblickte. Selbstverständlich wußte ich damals nicht, wie sie hieß; das einzige, was ich wußte, war, dass ich die schönste Frau vor mir hatte, die ich je gesehen und dass mein Herz ihr gehörte. Sie kam gerade selbst aus einem Beichtstuhl, und so hatte sie den Schleier hochgenommen. Ich konnte nicht glauben, dass eine so bezaubernd strahlende Frau anderes als Belanglosigkeiten zu beichten hätte, doch bemerkte ich, ehe sie den Schleier herunterzog, dass Tränen in ihren herrlichen Augen blinkten. Ich vernahm das schabende Geräusch, als der Priester die Schiebevorrichtung vor dem Sprechgitter des Beichtstuhls zuschob, den sie gerade verlassen hatte; dann trat auch er heraus. Er sagte ein paar Worte zu den Reuigen, die davor Schlange standen, woraufhin diese alle mißmutig vor sich hin murmelten und sich auf die anderen Beichtstühle verteilten. Er gesellte sich zu Dona Ilaria, und gemeinsam knieten sie nieder.
In einer Art Trance schob ich mich näher heran und glitt dann in die Bank auf der anderen Seite des Ganges; aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich sie. Wiewohl beide das Haupt gesenkt hielten, erkannte ich, dass es sich bei dem Priester um einen jungen Mann von herber Schönheit handelte. Man mag das unglaubwürdig finden, doch war ich augenblicklich eifersüchtig darauf, dass meine Dame -meine Dame -sich keinen ausgetrockneten alten Knorz ausgesucht hatte, ihm ihr Herz auszuschütten. Beide bewegten sie die Lippen wie im Gebet, das konnte ich sogar sehen, obwohl sie einen Schleier trug; doch taten sie selbiges abwechselnd, und so nahm ich an, dass er eine Art Litanei aufsagte und sie die Responsorien sprach. Zwar hätte die Neugier mich verzehren können zu erfahren, was sie ihm im Beichtstuhl alles anvertraut haben mochte, um der vertrauten Aufmerksamkeit ihres Beichtvaters teilhaftig zu werden, doch war ich viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Schönheit zu verschlingen.
Wie nur sie beschreiben? Betrachten wir ein Standbild oder ein Bauwerk, überhaupt ein Werk der bildenden Kunst oder der Architektur, pflegen wir auf diese oder jene Einzelheit hinzuweisen. Entweder macht die Zusammenfügung ebendieser Einzelheiten es schön, oder ein besonderes Detail ist so bemerkenswert, dass man mit allem anderen Mittelmaß versöhnt ist. Das Antlitz eines Menschen jedoch betrachtet niemand als eine Zusammenfügung von Einzelheiten. Entweder wir finden es insgesamt schön oder nicht. Sagen wir von einer Frau, sie habe »schön geschwungene Augenbrauen«, haben wir zweifellos genau hinsehen müssen, um das zu bemerken, und es gibt über den Rest ihrer Züge wohl kaum besonderes zu bemerken.
Ich kann zwar sagen, dass Ilaria eine schöne helle Haut und nußbraunes Haar hatte, doch das trifft auch auf viele andere Venezianerinnen zu. Ich kann sagen, ihre Augen waren so lebendig, dass es schien, als würden sie von innen heraus erleuchtet, statt dass das Licht von außen sich darin brach. Dass sie ein Kinn aufwies, das einen in Versuchung brachte, es mit der Hand zu umfassen. Dass sie das hatte, was ich für mich immer die »Veroneser Nase« genannt habe, weil man sie in Verona häufig
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