Marco Polo der Besessene 1
kompromittierender Art handeln. Da so viele Venezianerinnen sich eines Schreibers bedienten, Briefe ebendieser Art für sie zu verfassen - oder aber sie ihnen vorzulesen, wenn sie welche erhalten hatten -, war vielleicht das der Grund, warum so viele Frauen sich diesen zudio ansehen wollten und wohl Mutmaßungen darüber anstellten, ob er verräterische Briefe von ihnen in der Hand hatte. Vielleicht war es aber auch nur so, dass die Frauen die Gelegenheit wahrnahmen, einmal zuzusehen, wie ein Mann ausgepeitscht wurde, was sich wohl nur wenige gern entgehen lassen.
Der Wucherer wurde von etlichen uniformierten gastaldi-Wachen sowie dem ihm zugeteilten geistlichen Beistand, einem Mitglied der Laienbruderschaft der Gerechtigkeit, an den Schandpfahl geführt. Um in der erniedrigenden Eigenschaft als geistlicher Beistand für einen Juden unerkannt zu bleiben, trug der Bruder einen langen Rock und eine Kapuze mit Augenlöchern auf dem Kopf. Ein preco von der Quarantia stand dort, wo tags zuvor ich gestanden hatte -hoch über der Menge in der Loggia von San Marco mit den vier Pferden -und verlas dort mit weithin hallender Stimme:
»Insofern sich der überführte Mordecai Cartafilo auf sehr grausame Weise gegen den Staatsfrieden seiner Bürger vergangen hat... wird er zu vierzehn kräftigen Peitschenschlägen verurteilt und soll hinterher in einem pozzo des Palastkerkers eingeschlossen werden; die Signori della Notte sollen weitere Einzelheiten über seine Verbrechen aus ihm herausholen...«
Als der zudio wie üblich bei solchen Gelegenheiten gefragt wurde, ob er gegen das Urteil etwas einzuwenden habe, knurrte er nur gleichmütig: »Ne tibi ne catabi.« Mochte der Unglückliche noch so kühl mit der Schulter gezuckt haben, ehe er die Peitsche zu spüren bekam, so tat er während der nächsten Minuten etwas anderes. Zuerst grunzte er, doch dann schrie er, und schließlich heulte er laut. Ich sah mich in der Menge um -alle Christen nickten beifällig, während die Juden versuchten, woanders hinzusehen -und plötzlich blieben meine Augen an einem gewissen Gesicht haften, wollten nicht davon weichen, und so begann ich mich durch die dichtstehenden Leute hindurchzuschieben, um näher an meine verlorene und jetzt wiedergefundene Dame heranzukommen.
Hinter mir ertönte ein schriller Schrei, und Ubaldos Stimme rief: »Olä, Marco, du hast ja gar kein Ohr für die Synagogenmusik.« Ich jedoch drehte mich nicht um. Diesmal wollte ich nicht Gefahr laufen, dass mir die Dame wieder entwischte. Sie hatte den Schleier wieder abgenommen, wohl um die Peitscher besser beobachten zu können, und abermals ergötzten sich meine Augen an ihrer Schönheit. Als ich näher herankam, sah ich, dass sie neben einem hochgewachsenen Mann stand, der einen Umhang trug und sich eine Kapuze so tief übers Gesicht gezogen hatte, dass er fast genauso anonym war wie der Bruder der Gerechtigkeit neben dem Schandpfahl. Und als ich ganz nahe herangekommen war, hörte ich diesen Mann meiner
Dame zuflüstern: »Dann bist du es gewesen, der zum
Schnüffler gegangen ist.«
»Der J-Jude hat es verdient«, sagte sie, und für einen
flüchtigen Moment verweilte der gespitzte Mund kußbereit.
Er murmelte: »Ein wehrloses Huhn vor einem Tribunal von Füchsen!« Sie lachte leichtfertig, doch humorlos auf. »Wäre es Euch
lieber, ich hätte das Huhn beichten gehen lassen, Pater?« Ich überlegte, ob die Dame womöglich jünger sei, als sie aussah, wo sie doch offenbar jeden Mann mit Vater anredete. Als ich ihm dann jedoch, da ich kleiner war als er, von unten unter die Kapuze schaute, erkannte ich, dass es sich um eben jenen Priester von San Marco handelte, den ich auch gestern gesehen hatte. Da ich mich wunderte, warum er wohl sein Priestergewand verbarg, lauschte ich noch etwas länger, doch
gab mir ihr aus dem Zusammenhang gerissenes Gespräch
keinerlei Aufschluß darüber.
Immer noch mit halblauter Stimme sagte er: »Du starrst auf das
falsche Opfer. Es geht um den, der reden könnte, nicht den, der
vielleicht lauscht.«
Wieder lachte sie und sagte keck: »Den Namen dessen nennt
Ihr nie.«
»Dann sagt Ihr ihn«, murmelte er. »Dem Schnüffler. Liefert den
Füchsen eine Ziege und kein Huhn.«
Sie schüttelte den Kopf. »Der, um den es geht -der alte
Ziegenbock -hat Freunde unter den Füchsen. Ich bedarf der
Dienste von jemand, der noch verschwiegener vorgeht als
selbst der Schnüffler.«
Er schwieg eine Weile. Dann
Weitere Kostenlose Bücher