Marco Polo der Besessene 1
ihren Schenkeln und ihrer Artischocke ein kleines,
wirklich winzig kleines Dreieck Tageshelligkeit zu sehen sein.«
»Ist bei deiner Dame das Tageslicht zu sehen?« fragte jemand
mich.
»Ich hab sie doch nur ein einziges Mal gesehen, und dazu noch in der Kirche. Glaubt ihr etwa, sie wäre in der Kirche nackt rumgelaufen?«
»Nun, ist es denn bei Malgarita zu sehen?«
Woraufhin ich -ebenso wie eine Reihe von anderen Jungen sagte: »Ich hab' nicht darauf geachtet.« Malgarita kicherte und kicherte noch einmal, als ihr Bruder
sagte: »Das hättet ihr sowieso nicht sehen können. Dazu hängt
ihr hinten der Arsch und vorn der Bauch viel zu weit runter.« »Sehn wir uns doch mal Doris an!« rief jemand. »Olä, Doris! Preß die Beine zusammen und heb den Rock hoch'«
»Fragt lieber eine richtige Frau!« sagte Malgarita schnippisch. »Doris weiß doch noch nicht, ob sie Eier legen oder Milch geben soll.«
Statt mit irgendeiner schneidenden Bemerkung zurückzuschlagen, wie ich angenommen hatte, brach Doris in ein Schluchzen aus und rannte fort.
Das ganze Geschwätz war ja durchaus erheiternd und vielleicht sogar aufklärerisch, doch ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich sagte: »Wenn es mir gelingt, meine Dame wiederzufinden, und wenn ich sie euch dann zeige, vielleicht schafft ihr es besser als ich, ihr zu folgen und mir zu sagen, wo sie wohnt.«
»No, grazie«, sagte Ubaldo mit Entschiedenheit. »Eine hochwohlgeborene Dame zu belästigen, hieße zwischen den Pfeilern Glücksspiele zu spielen.«
Daniele schnippte mit den Fingern: »Da fällt mir was ein. Ich hab' gehört, heute nachmittag soll jemand bei den Pfeilern die frusta zu schmecken bekommen. Irgend so ein armer Teufel, der gespielt hat und verlor. Laßt uns hingehen und zusehen.«
Was wir denn alle taten. Eine frusta ist eine Peitsche oder öffentliche Auspeitschung, und bei den Pfeilern handelt es sich um eben jene beiden, von mir bereits erwähnten Säulen auf der Piazzetta, ganz nahe am Wasser. Die eine der Säulen ist meinem Namenspatron geweiht, die andere Venedigs früherem Schutzpatron, dem heiligen Teodoro, heute Todaro geheißen. Alle öffentlichen Bestrafungen und Hinrichtungen irgendwelcher Missetäter werden dort vorgenommen -»zwischen Marco und Todaro«, wie wir sagen.
Im Mittelpunkt des Geschehens stand an diesem Tag ein Mann, den wir Jungen alle kannten, wiewohl wir nicht wußten, wie er hieß. Er wurde ganz allgemein // Zudio genannt, womit man im allgemeinen einen Juden oder einen Wucherer bezeichnet, für gewöhnlich jedoch beides. Dieser Zudio wohnte zwar im burgheto, dem für seine Glaubensbrüder bestimmten Viertel, doch der enge Laden, in dem er Geld wechselte und Geld auslieh, lag an der Merceria, wo wir Jungen in letzter Zeit den größten Teil unserer Diebereien ausgeübt hatten, und so hatten wir ihn häufig hinter seinem Ladentisch kauern sehen. Hauptund Barthaar waren bei ihm gleichermaßen wie eine Art geringelter roter Flechte, die allmählich ergraute; auf seinem langen Mantel trug er den runden gelben Punkt, der ihn als Juden auswies, und dazu den roten Hut, der erkennen ließ, dass es sich um einen sephardischen Juden handelte.
Es gab unter der Menge an diesem Nachmittag zahlreiche andere Angehörige seines Glaubens, und die meisten von ihnen trugen rote Hüte; einige jedoch trugen auch die gelben Kopftücher, die ihre levantinische Herkunft verriet. Aus eigenem Antrieb wären sie vermutlich nicht hergekommen, um zuzusehen, wie einer ihrer Glaubensbrüder ausgepeitscht und gedemütigt wurde; aus diesem Grund macht das venezianische Recht es allen erwachsenen männlichen Juden zur Pflicht, solchen Bestrafungen beizuwohnen. Bei der überwiegenden Anzahl derer, die zusahen, handelte es sich jedoch um Nicht-Juden, die einfach hergekommen waren, um ihren Spaß zu haben; ein erstaunlicher Anteil der Zuschauer waren übrigens Frauen.
Verurteilt worden war der zudio wegen eines ziemlich gewöhnlichen Vergehens -er sollte bei irgendeinem Darlehen Wucherzinsen gefordert haben -, doch hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich von weit reizvolleren Missetaten. Es hielt sich nämlich hartnäckig das Gerücht, dass er -im Gegensatz zu jedem vernünftigen christlichen Pfandleiher, der nur gegen Geschmeide, Silbergeschirr und anderes wertvolle Gerät mit Geld herausrückte -auch Briefe als Pfand nahm, die auf ganz gewöhnlichem Papier geschrieben waren; allerdings mußte es sich schon um Briefe indiskreter oder
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