Marco Polo der Besessene 1
einfache Hinterhof-
Messerstecherei, bei der einer erdolcht wurde. Nach dem, was
ich gehört habe, hat es so was in der Geschichte der Republik
noch nie gegeben.«
»Dio mio!« hauchte Doris abermals, um mich dann zu fragen:
»Und was willst du jetzt tun?«
Nach einigem Nachdenken -sofern man das, was ich in dem
aufgewühlten Gemütszustand tat, Nachdenken nennen kann -,
sagte ich: »Vielleicht gehe ich jetzt besser nicht nach Hause.
Kann ich in einer Ecke eures Kahns schlafen?«
So also verbrachte ich die Nacht: auf einer Schütte aus
stinkenden Lumpen, ohne ein Auge zuzumachen; vielmehr
starrte ich an die Decke, funkelte diese an und war dabei
hellwach. Als Doris irgendwann in den frühen Morgenstunden
hörte, dass ich mich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, kam sie herbeigekrochen und fragte mich, ob sie mich in den Arm nehmen und einfach halten solle. Ich jedoch fauchte sie nur an, woraufhin sie sich wieder zurückschlich. Sie und Ubaldo und all die anderen Hafenrangen schliefen noch, als die Dämmerung heraufkroch und die Sonne anfing, ihre Finger durch die vielen Risse in dem alten Kahn zu stecken. Da stand ich auf, ließ meinen blutverschmierten Umhang zurück und schlüpfte hinaus in den Morgen.
Die ganze Stadt war rosig und bernsteinfarben überhaucht, und jeder Stein funkelte vom Tau, den der caligo zurückgelassen hatte. Mir hingegen war alles andere als strahlend zumute, und mir war, als wäre ich nicht nur äußerlich von einem schmutzigen Braun, sondern auch in meinem Mund. Ziellos wanderte ich durch die erwachenden Straßen, wobei die Tatsache, dass ich immer wieder in irgendwelche Gassen abbog, dadurch bestimmt wurde, dass ich vor irgendwelchen Menschen zurückscheute, die zu so früher Stunde bereits auf den Beinen waren. Nach und nach jedoch füllten sich die Straßen, und es waren der Menschen zu viele, um einem jeden aus dem Weg zu gehen, und ich hörte die Glocken die terza läuten, womit der Arbeitstag begann. Infolgedessen ließ ich mich in Richtung Lagune zur Riva Ca' de Dio treiben und betrat das Lagerhaus der Compagnia Polo. Wahrscheinlich hatte ich irgendwie dumpf den Wunsch, den Schreiber Isidoro Priulu zu fragen, ob er mich rasch und unauffällig als Schiffsjungen auf einem bald auslaufenden Schiff unterbringen könne.
Ich schlurfte so niedergeschlagen in sein kleines Kontor hinein, dass es eine Weile dauerte, ehe mir klar wurde, dass der Raum im Gegensatz zu sonst gesteckt voll war und Maistro Doro zu einer Schar von Besuchern gerade sagte: »Ich kann Euch nur sagen, dass er schon seit über zwanzig Jahren keinen Fuß mehr nach Venedig hinein gesetzt hat. Ich wiederhole: Messer Marco Polo hat seit vielen Jahren in Konstantinopel gelebt und lebt noch immer dort. Wen Ihr mir nicht glauben wollt hier kommt sein Neffe, der übrigens denselben Namen trägt, und der bestätigen kann...«
Ich fuhr stehenden Fußes herum, um wieder ins Freie zu gelangen; denn inzwischen war mir klargeworden, dass es sich bei der Menge um nicht mehr denn zwei Menschen handelte, freilich um zwei außerordentlich vierschrötige uniformierte gastaldi von der Quarantia. Ehe ich entkommen konnte, knurrte einer von ihnen: »Denselben Namen, eh? Und sieh dir an, was für ein schuldbewußtes Gesicht er macht!« Woraufhin der andere die Hand vorschnellen ließ und meinen Oberarm umklammerte.
Nun, ich wurde abgeführt, und dem Schreiber und den Lagerarbeitern fielen fast die Augen aus dem Kopf. Wir hatten nicht weit zu gehen; trotzdem kam mir der Weg länger vor als jede Reise, die ich bisher unternommen hatte. Schwächlich wehrte ich mich gegen den eisernen Griff der gastaldi und flehte mehr wie ein halbwüchsiger Junge denn ein bravo mit Tränen in den Augen zu erfahren, wessen man mich beschuldigte, doch die unerschütterlichen Büttel würdigten mich keines Wortes. Während wir die Riva entlang an dichtgedrängten Menschen vorüberkamen, denen gleichfalls die Augen aus dem Kopf fielen, jagten die Fragen sich in meinem Kopf: War eine Belohnung ausgesetzt worden? Wer war es, der mich verriet? Ob Doris oder Ubaldo geplaudert hatten? Wir gingen über die Strohbrücke hinüber, gingen aber nicht ganz bis zu jenem Eingang, der von der Piazzetta in den Dogenpalast hineinführte. Am Weizentor bogen wir in die Torresella ein, die neben dem Palast steht und die letzte Erinnerung daran war, dass in grauen Vorzeiten hier eine befestigte Burg gestanden hatte. Diese Torresella war jetzt
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