Marco Polo der Besessene 1
Eine Nonne! Meine
Schwester! Meinen kleinen Bruder!...«
Mein Onkel verlangte nur nach Trägern und wählte vier oder
fünf von den am wenigsten verschorften Männern aus. Der
Rest zog sich, mit der Faust drohend und Verwünschungen
ausstoßend, zurück.
»Möge Allah Euch schief ansehen'«
»Möget Ihr ersticken an Eurem Schweinefleisch.«
»... den zab Eurer Geliebten fressen!«
»... die unteren Regionen Eurer Mutter!«
Die Seeleute entluden jenen Teil der Ladung, der uns gehörte,
und unsere neuen Träger luden sich unsere Bündel auf Rücken
oder Schulter oder balancierten sie auf dem Kopf. Onkel Mafio
erteilte seine Befehle, zuerst auf französisch, dann in farsi, uns
in jenen Teil der Stadt zu bringen, der den Venezianern
vorbehalten ist, und dort zur besten Herberge; dann verließen
wir alle den Quai.
Ich war von Acre - oder Acko, wie die Einheimischen es nennen
- nicht sonderlich beeindruckt. Die Stadt selbst war auch nicht sauberer als der Hafen und bestand zur Hauptsache aus ziemlich verwahrlosten Häusern, wobei die breiteste Straße dazwischen auch nicht breiter war als die schmälsten Gassen Venedigs. Dort, wo Straßen und Plätze nicht von Mauern umringt waren, stank die Stadt nach Urin. Innerhalb der Stadtmauern jedoch stank es womöglich noch schlimmer, denn hier dienten die Gassen gleichzeitig auch noch als Abwassergraben und Abfallplatz; dazwischen balgten sich ausgemergelte Hunde bei hellem Tageslicht mit fetten Ratten um die größten Leckerbissen.
Noch überwältigender als der Gestank war in Acre freilich der Lärm. In jeder Gasse, die breit genug war, daß man einen Teppich zum Sitzen darauf ausbreiten konnte, drängten sich Schulter an Schulter die Händler, hockten hinter kleinen Tragebrettern mit irgendwelchen billigen Waren darauf: Bänder und Schals, überreife Feigen, Pilgermuscheln und Palmwedel, und ein jeder Händler versuchte den anderen mit seinen Rufen zu übertrumpfen. Bettler und blinde oder beinlose Leprakranke heulten und schnieften und zerrten uns beim Vorübergehen am Ärmel. Esel, Pferde und räudig aussehende Kamele - die ersten Kamele, die ich jemals sah -drängten uns an die Wand, wenn sie sich ihren Weg durch den Abfall in den engen Gassen bahnten. Wie elend und abgearbeitet sie unter ihren schweren Lasten alle aussahen! Trotzdem trieben ihre Treiber sie unbarmherzig mit Stöcken und drohenden Rufen voran. Gruppen von Männern aus aller Herren Länder standen beisammen und unterhielten sich, was sich freilich anhörte, als schrien sie sich aus Leibeskräften gegenseitig an. Vermutlich ging es bei dem, worüber sie redeten, um so weltliche Dinge wie Handel oder den Krieg, vielleicht aber auch nur ums Wetter; gleichwohl war ihre Unterhaltung derartig schrillstimmig und laut, daß man nicht sagen konnte, ob sie sich nun stritten oder nicht.
Als wir in eine Gasse einbogen, die breit genug war, uns das Nebeneinanderhergehen zu erlauben, sagte ich zu meinem Vater: »Ihr habt gesagt, Ihr hättet diesmal Handelsgüter mit auf Reisen genommen. Nur habe ich in Venedig nicht gesehen, daß irgendwelche Waren eingeladen worden wären, und jetzt sehe ich auch nichts dergleichen. Befinden die sich noch an Bord der Anafesto!«
Er schüttelte den Kopf. »Hätten wir Waren mitgenommen, die ganze Karawanen von Tragetieren erfordert hätten, wäre das gleichbedeutend damit gewesen, die unzähligen Diebe und Banditen zwischen uns und unserem Ziel in Versuchung zu bringen.« Mit diesen Worten lüftete er das kleine Bündel, das er in diesem Augenblick trug und keinem der Träger hatte anvertrauen mögen. »Wir haben statt dessen etwas Leichtes und Unauffälliges mitgenommen, das aber trotzdem von größtem Handelswert ist.«
»Zafran!« rief ich aus.
»Eben das. Ein Teil in Ziegelform gepreßt, ein Teil lose in Heuform. Und ein paar Säckchen Samen.« Ich lachte. »Ihr wollt doch gewiß nicht unterwegs anhalten und
sie einpflanzen und dann ein ganzes Jahr bis zur Ernte
warten.« »Wenn die Umstände es erfordern -warum nicht? Man muß versuchen, gegen alle Widrigkeiten gewappnet zu sein, mein
Junge. Wer das tut, dem hilft auch Gott. Es sind auch schon andere Reisende auf dem Drei-Bohnen-Marsch gewesen.«
»Wie bitte?« Mein Onkel erklärte es mir: »Der hochberühmte und weithin gefürchtete Chinghiz Khan, der Großvater unseres Kubilai, hat auf diese besonders langsame Weise des Vorrückens die halbe Welt erobert. Seine Heere samt den Familien
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