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Marco Polo der Besessene 1

Marco Polo der Besessene 1

Titel: Marco Polo der Besessene 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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eingezeichnet waren: der Adria, der Ägäis und so fort. An diesen mit Tinte eingezeichneten Küstenlinien hatte der Kapitän -und nicht nur er, sondern auch Kapitäne aus seinem Bekanntenkreis -die von See aus erkennbaren Hauptmerkmale eingezeichnet: Leuchtfeuer, Landzungen, steile Felsen und andere Dinge, die dem Seemann erlauben festzustellen, wo er sich befindet. Auf den Wasserbereichen der Karte hatte der Kapitän Notizen hingekritzelt, die sich auf Tiefen, verborgene Riffe und Wasserströmungen bezogen. Er berichtete mir, diese Erkenntnisse verändere er je nachdem, was er feststelle oder von anderen Kapitänen erfahre -zum Beispiel diese Tiefen sich durch Ablagerungen veränderten, wie das vor der Küste Ägyptens des Öfteren der Fall sei, oder durch die Tätigkeit von unterseeischen Vulkanen in griechischen Gewässern.
    Als ich meinem Vater von dem Periplus erzählte, lächelte er und sagte: »Das ist besser als überhaupt nichts. Wir aber besitzen etwas, das viel besser ist als ein Periplus.« Damit holte er ein womöglich noch dickeres Bündel Papiere aus
    unserer Kammer und sagte: »Wir haben den Kitab.« Mein Onkel sagte stolz: »Wenn der Kapitän im Besitz des Kitab wäre und sein Schiff auf dem Land segeln könnte, könnte er quer durch Asien bis ans Ostmeer von Kithai fahren.«
    »Ich habe dies für sehr viel Geld anfertigen lassen«, sagte mein Vater und reichte ihn mir. »Er wurde für uns vom Original kopiert, das wiederum von dem arabischen Kartographen al-Idrisi für König Roger von Sizilien angefertigt wurde.«
    Kitab, so sollte ich später erfahren, bedeutet auf arabisch nur soviel wie »ein Buch«, doch das trifft auf unser Wort Bibel auch zu. Und genauso wie die Bibel ist auch al-Idrisis Kitab wesentlich mehr als nur ein Buch. Auf der ersten Seite stand der volle Titel geschrieben, und den konnte ich sogar lesen, denn er war französisch und lautete: Auszug eines neugierigen Mannes, die Bereiche des Erdballs, seiner Provinzen, Inseln, Städte sowie ihrer Ausmaße und Lage zu erforschen; zur Unterrichtung und Hilfe dessen, der wünscht, die Erde zu durchqueren. All die vielen anderen Wörter auf den Seiten waren in der fluchwürdigen Krakelei der ungläubigen arabischen Länder ausgeführt. Nur hier und da hatten mein Vater oder mein Onkel eine leserliche Übersetzung dieses oder jenes Ortsnamens hingesetzt. Als ich die Seiten umblätterte, um diese Worte lesen zu können, fiel mir etwas auf, und ich mußte lachen.
    »Jede Karte steht ja auf dem Kopf. Schaut, er hat es so gezeichnet, daß der Fuß des italienischen Stiefels Sizilien in Richtung Afrika hochschießt.«.
    »Im Osten steht alles auf dem Kopf, ist rückwärtsgerichtet oder gegenteilig«, erklärte mein Onkel. »Auf den arabischen Landkarten zeigt immer der Süden nach oben. Die Leute aus Kithai nennen die bussola die ›Nadel, die nach Süden weist‹. An derlei Denkweisen wirst du dich gewöhnen.«
    »Abgesehen von dieser Besonderheit«, sagte mein Vater, »hat al-Idrisi bei der Wiedergabe der Länder der Levante und darüber hinaus bis Mittelasien eine erstaunliche Genauigkeit
    walten lassen. Wahrscheinlich hat er diese Gebiete selbst
     
    bereist.«
    Der Kitab bestand aus dreiundsiebzig Einzelblättern, die -Seite
    an Seite nebeneinandergelegt (und auf den Kopf gestellt) -den
    gesamten Umfang der Erde von Westen bis zum Osten
    wiedergaben, dazu einen beträchtlichen Teil auch des Nordens
    und des Südens, und das ganze in Klimazonen unterteilt durch
    parallel verlaufende, geschwungene Linien. Das Salzwasser
    der Meere war blau mit wellenförmigen weißen Linien
    wiedergegeben, die Flüsse waren schnörkelige grüne Bänder.
    Das Land war rehbraun und wies Tupfer von Blattgold auf, um
    Städte und kleinere Ortschaften wiederzugeben. Wo das Land
    sich zu Hügeln und Bergen auftürmte, waren diese durch
    Formen angedeutet, die Ähnlichkeit mit Raupen aufwiesen, und
    diese wiederum waren violett, rosa und orangefarben gefärbt.
     
    Ich fragte: »Sind die Hochlande des Ostens wirklich so lebhaft
     
    gefärbt? Violette Bergkuppen und...?«
    Gleichsam als Antwort auf diese Frage erscholl der Ruf des
    Ausgucks oben im Mastkorb: »Terre lä! Terre lä!«
     
    »Schau und sieh selbst, Marco«, sagte mein Vater. »Die Küste
    ist in Sicht. Was du vor dir siehst, ist das Heilige Land.«
     
    Selbstverständlich kam ich schließlich dahinter, daß die Farben
    auf al-Idrisis Karten die Höhe des Landes über dem
    Meeresspiegel andeuten

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