Margaret Mitchell
sonderbaren Nachtstunden auf
geheimnisvollen Wegen kamen und gingen und oft, der Mutter eine stets nagende
Angst, für Wochen verschwanden. Sie waren schon vor Jahren nach Amerika
gegangen, auf die Aushebung eines kleinen Arsenals von Flinten hin, die unter
dem O'Haraschen Schweinestall vergraben lagen. Nun waren sie erfolgreiche
Kaufleute in Savannah - »obwohl der liebe Gott allein weiß, wo das liegen mag«,
wie ihre Mutter bei der Erwähnung ihrer beiden Ältesten nie zu bemerken
unterließ. Und zu ihnen sollte jetzt der junge Gerald fahren.
Er verließ
sein Vaterhaus mit einem hastigen Kuß der Mutter, ihren inbrünstigen
katholischen Segensworten und der Abschiedsermahnung des Vaters: »Denk daran,
wer du bist, und nimm von niemandem etwas an!« Seine fünf großen Brüder sagten
ihm mit einem anerkennenden, aber doch ein klein wenig gönnerhaften Lächeln
Lebewohl, denn Gerald war der Jüngste und Kleinste dieser verwegenen Brut.
Seine fünf
Brüder und sein Vater maßen mehr als sechs Fuß und entsprechend viel in der
Breite, aber der kleine Gerald wußte mit einundzwanzig Jahren, daß fünfeinhalb
Fuß Höhe alles war, was der Herr in Seiner Weisheit ihm beschieden hatte. Es
sah Gerald ähnlich, daß er nie einen Kummer hieran verschwendete und sich auch
nie durch diesen Mangel an Körpergröße in seinem Selbstbewußtsein
beeinträchtigt fühlte. Im Gegenteil, seine feste, untersetzte Gestalt machte
ihn erst zu dem, was er war, denn er lernte früh, daß kleine Leute dreist sein
müssen, wenn sie sich zwischen den Großen durchsetzen wollen. Und dreist war
er. Seine großen Brüder waren ein grimmiges, wortkarges Geschlecht, welches
seinen endgültig verlorenen Ruhm mit einem verschwiegenen Groll und Haß trug,
der nur ab und zu in bitterem Humor aufflackerte. Wäre Gerald auch so
verschlossen wie sie gewesen, so wäre er den Weg der anderen O'Haras gegangen
und hätte heimlich und still mit den Aufsässigen gegen die Regierung gewühlt.
Aber er hatte »ein lautes Maul und einen Bullenschädel«, wie seine Mutter es
liebevoll ausdrückte. Von Temperament war er ein Pulverfaß, seine Fäuste waren
rasch geballt, und unter den großen O'Haras stolzierte er herum wie ein kleiner
Bantamgockel im Hühnerhof unter riesigen Cochinchinahähnchen. Sie hatten ihn
lieb, zogen ihn gutmütig auf, um ihn zum Toben zu bringen, und bearbeiteten ihn
mit ihren Fäusten nicht mehr als notwendig war, um ihm den ihm gebührenden
Platz anzuweisen.
Das Gepäck
an Bildung, das Gerald mit nach Amerika nahm, war dürftig, aber er wußte es
nicht. Seine Mutter hatte ihn Lesen und Schreiben gelehrt, auch rechnen konnte
er gut, und damit war seine Weisheit erschöpft. Das einzige Latein, was er
kannte, waren die Responsorien der Messe, die einzige Weltgeschichte war für
ihn all das Unrecht, das Irland angetan worden war. In der Poesie kannte er nur
Moore, in der Musik nur die irischen Lieder aus den alten Überlieferungen. Er
hatte eine lebhafte Hochachtung vor Leuten, die mehr gelernt hatten als er,
aber seine eigenen Lücken empfand er nie als Mangel. Wozu auch all das in einem
Neuland, wo seine ungebildetsten Landsleute das größte Vermögen gemacht hatten,
wo man nur danach fragte, ob jemand kräftig war und keine Arbeit scheute!
Auch James
und Andrew, die ihn in ihrem Kaufhaus in Savannah unterbrachten, vermißten
nichts an seiner Bildung. Seine Handschrift, sein gutes Rechnen und seine
kaufmännische Gerissenheit gewann ihren Beifall. Literarische und musikalische
Kenntnisse hätten nur ihre Verachtung erregt. Im Anfang des Jahrhunderts war
Amerika den Iren freundlich gesonnen. James und Andrew, die damit angefangen
hatten, Waren im Planwagen aus Savannah in das Innere Georgias zu bringen,
hatten es jetzt zu einem Kaufhaus gebracht, und Gerald kam mit ihnen voran. Der
Süden und seine Bewohner gefielen ihm, und bald gehörte er nach seiner eigenen
Meinung völlig dazu. Der Süden und seine Bewohner hatten zwar manches an sich,
was ihm immer unverständlich blieb; aber wie alles, was er tat, von ganzem
Herzen geschah, so machte er sich auch ihre Ansichten und Gewohnheiten ganz zu
eigen: Poker und Pferderennen, ihre politische Hitzköpfigkeit und ihren Ehrenkodex,
die Rechte der Südstaaten und den Groll gegen die Yankees, Sklaverei und
Baumwolle, Verachtung für das besitzlose Gesindel und übertriebene Höflichkeit
gegen die Damen. Er hatte sogar Tabakkauen gelernt; das Whiskytrinken brauchte
er nicht erst zu lernen; das
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