Margos Spuren
wie ein guter Dichter.
»Keine, die berühmt ist. Hier steht, er hatte ein paar Brüder, aber ob die Kinder hatten, wird nicht erwähnt. Wahrscheinlich könnte ich es rausfinden, wenn es wichtig ist.« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht das Gefühl, dass uns das weiterführte. Also sah ich mich noch mal in Margos Zimmer um. Im untersten Fach des Plattenregals standen ein paar Bücher – Jahrbücher aus der Mittelstufe, eine zerlesene Ausgabe von Die Outsider und ein paar alte Teenie-Zeitschriften. Auf jeden Fall nichts, was mit Walt Whitmans Nichte zu tun hatte.
Ich sah die Bücher auf ihrem Nachttisch durch. Nichts von Interesse. »Es würde mir einleuchten, wenn sie hier einen Gedichtband von ihm stehen hätte«, sagte ich. »Aber es sieht nicht so aus.«
»Doch! Hier!«, rief Ben aufgeregt. Er kniete vor dem Bücherregal. Das dünne Bändchen, das zwischen zwei Jahrbüchern steckte, hatte ich glatt übersehen. Walt Whitman. Grashalme . Ich zog es aus dem Regalfach. Auf dem Umschlag war ein Foto von Whitman, den Blick seiner hellen Augen in die Ferne gerichtet.
»Nicht schlecht«, sagte ich zu Ben.
Er nickte. »Ja. Können wir jetzt gehen? Nenn mich altmodisch, aber ich habe keine Lust, hier zu sein, wenn Margos Eltern zurückkommen.«
»Haben wir irgendwas übersehen?«
Radar stand auf. »Sieht aus, als ginge sie ziemlich linear vor. Es muss irgendwas in dem Buch sein. Trotzdem, eine Sache finde ich komisch. Ich meine, nimm’s nicht persönlich, aber wenn sie bisher ihren Eltern die Wegweiser hinterlassen hat, warum sollte sie sie diesmal dir hinterlassen?«
Ich zuckte die Schultern. Ich hatte keine Antwort, aber ich hatte natürlich gewisse Hoffnungen : Vielleicht wollte Margo mein Selbstbewusstsein herausfordern. Vielleicht wollte sie diesmal gefunden werden, und vielleicht wollte sie von mir gefunden werden. Sie hatte mich für eine abenteuerliche Nacht ausgewählt, und vielleicht hatte sie mich erneut ausgewählt. Und vielleicht warteten ungeheure Schätze auf den, der sie fand.
Als wir wieder bei mir waren, zogen Ben und Radar ab, sobald sie nacheinander das Buch durchgeblättert und nichts Auffälliges gefunden hatten. Ich holte mir einen Teller kalte Lasagne aus dem Kühlschrank und ging mit Walt Whitman in mein Zimmer. Es war die Penguin-Ausgabe der ersten Edition von Grashalme . Ich überflog die Einleitung, dann blätterte ich durch das Buch. Einige Stellen waren mit blauem Marker unterstrichen, alle in dem bekanntesten Gedicht, dem episch langen »Lied auf mich selbst«. Und ich fand zwei Zeilen, die mit grünem Marker unterstrichen waren :
Schraub die Schlösser von den Türen los!
Schraub die Türen selbst von ihren Pfosten los!
Den Großteil des Nachmittags verbrachte ich damit, über diese zwei Zeilen nachzudenken. Vielleicht wollte Margo mir damit sagen, dass ich weniger brav sein und meine Hemmungen überwinden sollte, dachte ich. Doch auch die anderen blau unterstrichenen Zeilen las ich immer wieder :
Du sollst die Dinge nicht aus zweiter und dritter Hand nehmen … noch mit den Augen der Toten sehen … noch dich nähren von den Geistern in Büchern.
Ich wandere auf einer ewigen Reise …
Alles strebt ins Weite und Breite … und nichts zerfällt,
Und Sterben ist anders, als je einer gedacht, und glücklicher.
Sieht kein Mensch auf der Welt hin, sitz ich zufrieden,
Und sehen alle und jeder hin, sitz ich zufrieden.
Die letzten drei Strophen von »Lied auf mich selbst« waren vollständig unterstrichen.
Ich vermache mich dem Erdboden, um aus dem Gras, das ich liebe, zu wachsen.
Wenn du mich wiederhaben willst, suche mich unter deinen Schuhsohlen.
Dann wirst du kaum wissen, wer ich bin oder was ich meine,
Trotzdem werde ich deinem Wohl zuträglich sein
Und dein Blut klären und kräftigen.
Findest du mich nicht gleich, sei guten Mutes,
Verfehlst du mich an einem Ort, suche woanders,
Irgendwo bleibe ich stehen und warte auf dich.
Es wurde ein Wochenende, das ich mit Lesen verbrachte und dabei versuchte, sie in den Fragmenten der Gedichte, die sie mir hinterlassen hatte, zu sehen. Auch wenn ich nicht schlau aus den Zeilen wurde, dachte ich trotzdem weiter darüber nach, weil ich Margo nicht enttäuschen wollte. Sie wollte, dass ich die Saite anspielte und den Ort fand, wo sie stehen geblieben war und auf mich wartete, sie wollte, dass ich den Brotkrumen folgte, bis sie zu ihr führten.
5
Am Montag passierte
Weitere Kostenlose Bücher