Margos Spuren
Überraschung erwartete uns an der Wand neben dem Computertisch : ein Regal, mannshoch und doppelt so breit, voller Schallplatten. Hunderte von Vinyl-Platten. »Auf dem Plattenspieler liegt A Love Supreme von John Coltrane«, sagte Ben.
»Gott, das ist ein geniales Album«, sagte Radar, ohne vom Computer aufzusehen. »Die Kleine hat Geschmack.«
Verwirrt sah ich Ben an, der mir erklärte : »Er war Saxophonspieler.« Ich nickte.
Beim Tippen sagte Radar : »Ich fasse es nicht, dass Q nicht weiß, wer Coltrane ist. Tranes Musik ist der schlagendste Beweis für die Existenz Gottes.«
Ich begann die Platten durchzusehen. Sie waren alphabetisch nach Künstlern geordnet. Ich suchte nach G. Dizzie Gillespie, Jimmie Dale Gilmore, Green Day, Guided by Voice, George Harrison. »Sie hat jeden Musiker auf der ganzen Welt außer Woody Guthrie«, stellte ich fest. Und dann fing ich noch mal vorne an.
»Ihre Schulbücher hat sie hiergelassen«, hörte ich Ben sagen. »Und noch ein paar Bücher auf dem Nachttisch. Kein Tagebuch.«
Doch ich war von Margos Plattensammlung abgelenkt. Sie hatte einfach alles . Ich hätte nie gedacht, dass sie all diese alten Platten hörte. Ich hatte zwar öfter gesehen, dass sie mit Kopfhörern joggen ging, aber ich hatte nicht geahnt, dass es ein richtiges Hobby war. Von den meisten Bands hatte ich noch nie gehört, und außerdem war ich überrascht, dass von den neueren Bands immer noch Vinylplatten produziert wurden.
Ich ging die As durch und dann die Bs – Beatles, Blind Boys of Alabama, Blondie – und dann wurde ich schneller, so schnell, dass ich die Rückseite von Billy Braggs Mermaid Avenue erst sah, als ich schon bei den Buzzcocks war. Ich hielt inne, ging zurück und zog die Billy-Bragg-Platte heraus. Auf der Vorderseite war ein Foto von irgendeiner Häuserreihe. Doch von der Rückseite starrte mir Woody Guthrie entgegen, die Zigarette im Mundwinkel und die Gitarre vor dem Bauch, auf der THIS MACHINE KILLS FASCISTS stand.
»Hallo«, sagte ich. Ben sah herüber.
»Heiliges Kanonenrohr«, sagte er. »Netter Fund.«
Radar schwang mit dem Stuhl herum. »Nicht schlecht. Schau nach, was drin ist.«
Leider war nur eine Platte drin. Eine Platte, die wie jede andere Platte aussah. Ich legte sie auf Margos Plattenspieler, kriegte heraus, wie er funktionierte, und setzte die Nadel auf. Irgendein Typ, der Woody Guthries Lieder sang. Er sang sie besser als Woody Guthrie.
»Meint ihr, das ist nur Zufall?«
Ben hielt das Cover hoch. »Schau dir das an.« Er zeigte auf die Songliste. Der Titel »Walt Whitman’s Niece« war mit schwarzem Kuli eingekringelt. Walt Whitmans Nichte.
»Interessant«, sagte ich. Margos Mutter hatte gesagt, dass Margos Wegweiser nirgendwohin führten, aber jetzt wusste ich, dass Margo eine zusammenhängende Spur gelegt hatte – und anscheinend war die Spur für mich gedacht. Ich musste daran denken, wie sie im SunTrust Building zu mir gesagt hatte, dass sie mich selbstbewusst lieber mochte. Ich drehte die Platte um und spielte den Song ab. »Walt Whitman’s Niece« war das erste Lied auf der B-Seite. Und es war gar nicht schlecht.
Ruthie stand in der Tür und sah uns zu. »Hast du irgendwelche Hinweise für uns, Ruthie?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe auch schon gesucht«, sagte sie traurig. Radar sah mich an und warf einen Blick in Ruthies Richtung.
»Kannst du bitte weiter Schmiere für uns stehen?«, sagte ich. Sie nickte und ging. Ich schloss die Tür hinter ihr.
»Was ist?«, fragte ich Radar.
Er winkte uns an den Computer. »In der Woche, bevor sie abgehauen ist, war Margo ziemlich häufig auf Omnictionary. Ich kann sehen, wie viele Minuten sie mit dem Benutzernamen eingeloggt war, den ich bei ihren Passwörtern gefunden habe. Aber sie hat ihre Browsing History gelöscht, deshalb weiß ich nicht, was sie recherchiert hat.«
»Hey, Radar, sieh mal nach, wer dieser Walt Whitman war«, sagte Ben.
»Er war Lyriker«, antwortete ich. »Neunzehntes Jahrhundert.«
»Na toll.« Ben verdrehte die Augen. »Gedichte.«
»Was ist damit?«, fragte ich.
»Gedichte sind total emo«, sagte er. »Ah, der Schmerz. Der Schmerz. In meinem Herz. Das ist kein Scherz.«
»Ja, ich glaube, das war Shakespeare«, sagte ich trocken, dann fragte ich Radar : »Hatte Whitman irgendwelche Nichten?« Er rief bei Omnictionary die Seite zu Whitman auf. Ein stämmiger Mann mit Rauschebart. Ich hatte nie was von ihm gelesen, aber er sah auf jeden Fall aus
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