Margos Spuren
Stunde war ihm die Lust vergangen. Ich gehe hin, und aus der Nähe sehe ich, dass unter der weißen Farbe rotes Graffiti durchschimmert. Was da stand, ist nicht zu erkennen. Vor der Wand steht ein offener Eimer weiße Farbe. Ich knie mich hin und stecke den Finger hinein. Die Oberfläche ist hart, aber sie gibt schnell nach, und mein Finger ist weiß, als ich ihn rausziehe. Schweigend sehe ich zu, wie die Farbe von meinem Finger tropft. Wir kommen alle zu dem gleichen Schluss, nämlich, dass vor Kurzem jemand hier gewesen ist. Und dann knarrt es plötzlich wieder, und Radar lässt die Taschenlampe fallen und flucht.
»Mann, ist das unheimlich«, sagt er.
»Hey, Leute«, ruft Ben. Die Taschenlampe liegt auf dem Boden, und ich will sie gerade aufheben, als ich sehe, dass Ben auf die Wand zeigt. Durch irgendeinen optischen Trick leuchtet im indirekten Licht das Graffiti durch die Farbschicht durch, und in geisterhaft grauen Druckbuchstaben erkenne ich sofort Margos Handschrift.
IRGENDWANN GEHST DU IN DIE FALSCHEN STÄDTE
UND KOMMST NIE MEHR ZURÜCK
Ich hebe die Taschenlampe auf und leuchte die Wand an, und die Botschaft verschwindet. Als ich in die andere Richtung leuchte, taucht sie wieder auf.
»Ach du Scheiße«, murmelt Radar vor sich hin.
Und dann sagt Ben : »Können wir jetzt gehen? Denn das letzte Mal, als ich solche Angst hatte … scheiß drauf. Ich hab Panik. Es ist überhaupt nicht mehr komisch.«
Es ist überhaupt nicht mehr komisch beschreibt das Grauen, das ich selbst empfinde, wahrscheinlich ganz gut. Jedenfalls gut genug.
Mit schnellen Schritten bin ich zurück beim Loch. Ich spüre, wie sich die Wände um uns zusammenziehen.
10
Ben und Radar brachten mich nach Hause – sie hatten zwar die Schule geschwänzt, doch die Orchesterprobe konnten sie nicht ausfallen lassen. Lange saß ich allein über dem »Lied auf mich selbst« und versuchte zum zehnten Mal, es von vorne bis hinten durchzulesen. Doch das Schwierige war : Das Gedicht ist achtzig Seiten lang und irgendwie schräg und voller Wiederholungen, und auch wenn ich jedes einzelne Wort verstand, verstand ich kein Wort von dem Gedicht als Ganzem. Ich wusste, dass wahrscheinlich nur die unterstrichenen Zeilen wichtig waren, doch ich wollte wissen, ob man das Gedicht als Selbstmordankündigung lesen konnte. Aber ich wurde einfach nicht schlau daraus.
Nach etwa zehn verwirrenden Seiten wurde mir so mulmig, dass ich beschloss, Detective Warren anzurufen. Ich fand seine Karte in einer Shorts im Wäschekorb. Nach dem zweiten Klingeln ging er ran.
»Warren.«
»Hallo, also, hier ist Quentin Jacobsen. Ein Freund von Margo Roth Spiegelman.«
»Klar, Junge. Ich erinnere mich. Was gibt es?«
Ich erzählte ihm von den Hinweisen und von der verlassenen Ladenzeile und von den falschen Städten, wie sie Orlando eine falsche Plastikstadt genannt hatte, als wir oben auf dem SunTrust-Hochhaus standen, und wie sie mir erzählt hatte, dass sie nicht von Kindern im Park gefunden werden wollte und dass wir unter unseren Schuhsohlen suchen sollten. Er sagte nichts dazu, dass wir in ein leer stehendes Gebäude eingebrochen waren, und fragte auch nicht, was ich morgens um zehn an einem Schultag da draußen zu suchen hatte. Stattdessen wartete er, bis ich fertig war, und dann sagte er : »Junge, aus dir wird noch ein richtiger Kommissar. Du brauchst nur noch die Kanone, den Bierbauch und die drei Exfrauen. Was ist deine Theorie?«
»Ich habe Angst, dass sie … also, dass sie sich umgebracht hat.«
»Ich glaube nicht, dass die Kleine irgendwas anderes vorhatte als ausreißen, Junge. Ich verstehe deine Sorge, aber du musst immer dran denken, dass sie das Gleiche früher schon gemacht hat. Diese Spuren, meine ich. Wie sie das alles inszeniert. Ehrlich, Junge, wenn sie wollte, dass du sie findest – tot oder lebendig –, dann hättest du sie längst gefunden.«
»Aber glauben Sie nicht …«
»Junge, unglücklicherweise ist sie vor dem Gesetz eine Erwachsene und kann tun und lassen, was sie will, verstehst du? Ich gebe dir einen Rat : Warte, bis sie von alleine wieder nach Hause kommt. Irgendwann musst du aufhören, in den Himmel zu starren, sonst schaust du dich eines Tages um und merkst, dass du selber längst davongeschwebt bist.«
Als ich auflegte, hatte ich einen üblen Geschmack im Mund. Ich begriff, dass es nicht Warrens Vergleiche waren, die mich zu Margo führen würden. Ich musste wieder an den Vers am Ende denken, den Margo
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