Mari reitet wie der Wind
alles so hoffnungslos verloren, wie es dir jetzt erscheint. Heute Abend spielen wir. Willst du dir nicht die Vorstellung ansehen?« Maris Augen wurden plötzlich groß und leuchtend. Sie konnte vor Freude kaum sprechen. Doch plötzlich rief sie flehend: »Oh, bitte, darf meine Mutter auch kommen? Mein Großvater war auch beim Zirkus. Meine Mutter redet nicht viel darüber, aber sie liebt den Zirkus über alles, das weiß ich genau. Nur haben wir nie das Geld gehabt, um in die Vorstellung zu gehen.« Beide lächelten jetzt, herzlich und etwas gerührt, und Fanny versprach: »Wir legen euch Karten an der Kasse zurück.«
12. Kapitel
Der Zirkus hatte sein Lager am Stadtrand, in der Nähe des Strandes aufgeschlagen. Die Wohnwagen, in denen die Artisten lebten, bildeten einen Kreis. Die Butankocher dampften, nasse Wäsche flatterte auf Leinen. Nach dem starken Gewitter war der Himmel tiefblau, die Erde noch aufgeweicht und voller Pfützen. Mari war glücklich, das Zirkusleben aus nächster Nähe mitzubekommen. Alle Wohnwagen waren dunkelblau angestrichen und mit dem Zeichen der Sonne versehen. Die Sonnenbilder waren einfach und wirkten fast so, als hätte ein Kind sie gemalt. Mari war fasziniert. Mit offenem Mund sah sie zu, wie die Zeltarbeiter Stützen, Ringe und Seile aufbauten. Bald erhob sich vor ihren staunenden Augen ein großes weißes Zelt mit zwei Kuppeln. Im »Sonnen-Zirkus« traten nur Reiter auf, das war seine Besonderheit. Es gab keine Luftakrobaten, Clowns oder Seiltänzer und auch keine Tierbändiger. »Raubkatzen sind nicht für den Zirkus gemacht«, sagte Fanny. »Lukas erträgt keine Tiere im Käfig.« »Und die Pferde?«, fragte Mari. »Den Pferden macht es Spaß, vor Publikum zu spielen. Sie genießen den Applaus und lernen bereitwillig Kunststücke.« Die Wagen für die Pferde standen zwischen Baulastern und Ausrüstungswagen. Sobald der Zirkus an dem Ort ankam, wo die Vorstellung stattfand, wurde ein besonderes Zelt für sie aufgestellt. Maris Herz pochte, als sie dieses Zelt betrat. Die Stallburschen schleppten Strohballen herein und beachteten sie nicht. Alle Pferde standen auf Streu, durch Seile voneinander getrennt. Wie schön sie waren! Die dichten Mähnen waren glänzend und gepflegt. Das kastanienbraune, fuchsrote oder goldbraune Fell glänzte wie Rohseide. Auch für Paloma war der Boden mit Sand und trockenem Stroh bestreut worden, damit ihre Hufe weich standen. Auch mit Futter und Wasser war sie versorgt worden. Mari rief das Tier beim Namen. Die Stute bewegte die Ohren. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Sie blähte die Nüstern, stieß ein sanftes Schnauben aus. Ihre Augen glänzten. Auf einmal senkte sie den Kopf, rieb ihn an Maris Schulter. Mari legte ihr beide Hände um den Hals, drückte ihr Gesicht an das warme Fell, vermischte ihre Locken mit der langen, krausen Mähne. »Das Pferd liebt dich«, sagte hinter ihr eine tiefe Stimme. Mari fuhr herum und starrte in Lukas’ dunkles Gesicht. In seinen Augen schimmerte ein Lächeln. Sie schluckte. »Ich liebe sie auch.« »Wenn Tiere und Menschen gemeinsam träumen, entsteht eine besondere Kraft.« Lukas sprach mit ruhiger Stimme, die er keine Sekunde lauter werden ließ. Er strich Paloma über das Maul. Sie zeigte nicht die geringste Unruhe. Lukas rief einem Stallburschen etwas zu. Ein paar Sekunden später brachte der Junge ein weiches, geflochtenes Halfter. Lukas nickte Mari zu. »Sie hat ein empfindliches Maul. Kannst du sie mit so einem Halfter reiten?« Mari nickte zurück, mit großen Augen. Er schlug ihr leicht auf die Schulter. »Komm! Wir gehen in die Manege. Es gibt einige Dinge, die man bei einem Pferd genau in Augenschein nehmen muss.« Sie traten durch den Sattelgang in das Halbdunkel des Zeltes. Mari erschien es wie ein turmhoher Raum, in dem sich die Sitzreihen spiralenförmig hoben. Inmitten der Manege schimmerte eine schwarze Wasserfläche. Sie wirkte geheimnisvoll wie ein Teich, obwohl sie nur knöcheltief war. Lukas rief laut ein paar Worte. Eine Stimme antwortete. Hinter der Beleuchtungsanlage bewegten sich undeutlich zwei Gestalten. Plötzlich flammten zwei Scheinwerfer auf, tauchten das Zelt in goldgelbes Licht. Mari verzog das Gesicht und blinzelte. »Na, dann zeigt mal, was ihr könnt«, sagte Lukas. Er stieg über die Holzbretter und setzte sich so, dass er die Manege gut überschauen konnte. »Aber was soll ich tun?«, rief ihm Mari verwirrt zu. »Vergessen, dass ich da bin«, antwortete er gleichmütig.
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