Maria, Mord und Mandelplätzchen
um. Hinter ihnen steht ein Mann mit einer verschneiten Fellmütze, der sie unbemerkt von hinten eingeholt hat.
Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen;
Zwei Tage vorher
Fluffige Flocken tänzeln in der Luft und legen sich wie Zuckerwatte auf Dächer und Fußwege. Rund um Hannovers Marktkirche stehen dicht gedrängt die Holzbuden des Weihnachtsmarkts. Zwei Tage noch bis Heiligabend. Der Geruch von Bratwürsten, Kartoffelpuffern und Schmalzkuchen wabert durch die schmalen Gassen und vermischt sich mit dem Duft des Glühweins. Angestellte aus benachbarten Büros treffen sich zum abendlichen Umtrunk, verliebte Paare schlendern eng umschlungen an den Ständen vorbei, Familien bummeln zum Kinderkarussell, vor dem Kasperltheater kreischen die Kleinen vor Vergnügen.
»Los, lass uns weitergehen«, drängt Agnes ihre beiden jüngeren Schwestern. »Der Schlaumeier ist mir schon auf die Nerven gegangen, als meine Jungs noch Milchzähne hatten.« Und das ist eine Weile her. Ihre Söhne studieren mittlerweile über ganz Deutschland verteilt.
Die Schwestern schieben sich durch das Menschengedränge zu den beleuchteten Fenstern der komfortablen Holzhütte von Käthe Wohlfahrt. Dort wetteifern Schwibbogen und Holzknoddl mit Rothenburger Butzln um die Portemonnaies der Weihnachtsmarktbesucher. Die drei Schwestern bleiben stehen und mustern die Auslage. Agnes, Beate und Carmen. ABC . Zu Dagmar oder Dieter haben sich ihre Eltern nicht mehr aufraffen können – was nicht an der hohen Stirn und dem Pferdegebiss liegt, das alle drei vom Großvater geerbt haben.
»Wer kauft eigentlich diesen Scheiß?«, grummelt Agnes. Seit ihr Ehemann sie damals kurz vor Weihnachten verlassen hat, bekommt sie Aggressionen, wenn sie Räuchermännchen nur von weitem sieht. Dabei hat Uwe das Pfeiferauchen längst aufgegeben. Seiner neuen Frau zuliebe.
Beate stupst die Jüngste des Schwesterntrios unauffällig an. Sie müssen dringend die Stimmung von Agnes heben, sonst endet der Abend in Trübsal. Beates und Carmens Blicke wandern beredt hin und her, bis ihnen eine Idee kommt.
»Dahinten gibt es Feuerzangenbowle. Die wollte ich immer schon mal probieren«, lügt Beate.
»Super, das machen wir«, juchzt Carmen und hakt sich bei Agnes unter. »Komm.«
»Ich weiß nicht.« Agnes’ Mundwinkel hängen unentschlossen herunter, als wenn sie sich zwischen dreißig Eissorten entscheiden müsste. Beate und Carmen gehen mit keiner Miene darauf ein. Im Gegenteil. Carmen beschleunigt ihren Schritt, um schnell die Getränke zu besorgen. Vor dem Verkaufswagen steht eine Traube kichernder junger Frauen mit roten Weihnachtsmannmützen, jede mit einem dampfenden Becher in der Hand. Carmen drängelt sich an ihnen vorbei und ruft: »Kann ich bitte drei Becher Feuerzangenbowle haben?« Niemand beachtet ihre Bestellung. »Hallo, dreimal Feuerzangenbowle!« Ihre Stimme wechselt von höflich zu ungeduldig.
»Lasst uns weitergehen. Hier ist es doch viel zu voll.« Agnes verzieht genervt ihr Gesicht. Sie möchte lieber nach Hause. Es ist schließlich ihr Geburtstag. Das allerdings ist genau der Haken an der Sache: Am Geburtstag darf man nicht allein sein, sagen ihre Schwestern. Würde sie aber gerne. Dazu ein gutes Buch, ein Glas Rotwein. Aber keine Chance. Beate und Carmen haben beschlossen, Schwung in ihr Leben zu bringen. Seit Uwe sie vor sechs Jahren verlassen hat, schleppen ihre Schwestern sie deshalb Jahr für Jahr am 22 . Dezember auf den Weihnachtsmarkt und überreichen ihr bei Weihnachtsliedern und Glühwein unerträgliche Geschenke. Mit Plüsch bezogene Handschellen, rote Spitzentangas, lila Dildos. Und warum? Weil Carmen sich Tag für Tag die geheimsten Wünsche und Phantasien ihrer wechseljahrsgeplagten Patientinnen anhören muss – und diese sofort auf ihre ältere Schwester überträgt. Beate ist nicht besser. Auch sie hat Agnes schon vor Jahren zum Notstandsgebiet erklärt. Dabei stören Agnes die paar Hitzewallungen gar nicht. Genauso wenig wie der fehlende Sex. Schon lange bevor Uwe gegangen ist, hat sie die Lust daran verloren. Sex wird völlig überbewertet. Das hat sie Carmen nicht nur einmal gesagt. Aber die hört ihr nicht zu. Nie. Dabei sollte sie das als Psychologin können.
Und droben aus dem Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor;
Mit heißen Bechern in der Hand beobachten die drei Schwestern, wie rumgetränkte Zuckerhüte von der Feuerzange in den großen kupfernen Kessel mit dem
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