Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
zertrampelt, das er in vielen Stunden Arbeit mit Papa gebaut hatte. Anna-Sophie lässt ihren Bruder den Baum wieder und wieder treten, ist aber froh, dass er dabei nach einer Weile nichts mehr sagt, sondern nur immer wieder zutritt. Ihr ist kalt, denn ihre Hände stecken zwar in Handschuhen, aber in die Stiefel ist Schnee gekommen. Die Zehen von ihrem linken Fuß kann sie kaum mehr spüren, doch trotzdem will sie hier oben bei ihrem Bruder bleiben und einfach nur schauen, während Bene langsam ruhiger wird. Es ist schön hier in den Bergen. Weiter unten im Tal sieht sie im Dorf die verschneiten Häuser kreuz und quer um die wenigen Straßen stehen, mittendrin der gelbe Kirchturm, der oben aussieht wie eine Zwiebel. Aber das Schönste ist eine Wolke, die unendlich langsam über den kornblumenblauen Himmel auf den Kirchturm zugleitet. Anna-Sophie stößt einen spitzen Schrei aus.
»Da! Das ist sie!«
Bene weiß sofort, was seine Schwester meint. Er hält inne. Der Baum ist uninteressant geworden. Anna-Sophie hat bereits ihren rechten Handschuh ausgezogen. Fieberhaft zieht sie an Benes linkem, damit sie sich die Hände reichen können.
»Jetzt! Schnell!«
Hand in Hand stehen die Geschwister da, die Gesichter der Wolke am Himmel zugewandt, die jetzt direkt über der Kirchturmspitze zum Stehen zu kommen scheint. Keine normale Wolke sieht so aus.
ELFTES KAPITEL
PFARRER UND KRÄHEN
»Was genau wollen Sie von mir?«
Die Stimme des Pfarrers ist voll, aber relativ hoch, eher ungewöhnlich für einen Mann mittleren Alters, wie Miriam gleich auffällt. Außerdem ähneln die feinen roten Äderchen auf seiner Nase in ihrer Vernetzung einem Spinnennetz, allerdings einem sehr chaotischen. Irgendwie unheimlich ist der Mann, aber zu Pfarrern hat Miriam ohnehin nie das ganz große Vertrauen gehabt. Dennoch glaubt sie, hier richtig zu sein, um ihren Plan weiterzuverfolgen. Sie atmet tief durch und fasst all ihren Mut zusammen.
»Ich wollte Ihnen mein Lied zeigen. Vielleicht passt es ja in Ihre diesjährige Weihnachtsaufführung? Joe, ich meine Josef Stadler, hat mir erzählt, wie viel Wert hier auf die Musik gelegt wird. Ihre Kirchenkonzerte sind allein schon wegen der vielen Feriengäste immer gut besucht, und zudem soll Ihr Kirchenchor wirklich ausgezeichnet sein, wie Joes Mutter, also Hilla Stadler, betont hat.«
»Soso, Sie kommen also vom Josef Stadler.«
Um Miriam genauer unter die Lupe zu nehmen, beugt sich der korpulente Mann in Schwarz ächzend ein wenig weiter vor, und den Pfarrer scheint zunächst ausschließlich ihr Bauch zu interessieren. Da ihre Worte bei dem Mann so gar keine Reaktion hervorrufen, fügt sie noch schnell hinzu, dass das Singen ja nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ungewöhnlich gesund sein soll und vor allem gottgefällig, sehr gottgefällig.
Der Pfarrer reibt sich nachdenklich das Muster der Äderchen auf seiner Nase, während er mit hochgezogenen Augenbrauen die Seiten mit Noten und Text betrachtet, die Miriam ihm mit verbindlichem Lächeln in die Hand drückt. Sie schiebt vorsichtshalber noch ein weiteres Löffelchen verbalen Honig nach, denn der gute Mann könnte, seiner mangelnden Reaktion nach zu urteilen, bereits ein wenig taub sein. Deshalb erhebt sie jetzt ihre Stimme ein wenig.
»Nie ist man der Liebe, und natürlich vor allem der göttlichen Liebe, so nah wie in einem Musikstück, das in der rechten Gesinnung komponiert ist. Meinen Sie nicht?«
Miriam hofft sehr, dass niemand auf irgendeiner Wolke ihre Worte hört, denn ihre Schwester und ihre Mutter würden sich vor Peinlichkeit kringeln. Aber Miriam hat es sich fest in den Kopf gesetzt, den Pfarrer zu ihrem Verbündeten zu machen. Sie will nicht nur Joe beweisen, was in ihr steckt, sondern auch sie selber braucht nach den Monaten der Frustration dringend ein berufliches Erfolgserlebnis. Musik ist ihr Leben, und auch mit drei Kindern wird Miriam einen Weg finden, um in diesem Feld zu arbeiten. Aufgeben gilt nicht. Der Pfarrer hat inzwischen ihr Lied überflogen und räuspert sich.
»Also, ich weiß nicht …« Er schüttelt bereits seinen Kopf und will ihr die Seiten zurückgeben. »Ich selber verstehe nicht so viel von der Musik, aber in den letzten Jahren haben wir nie etwas gesungen, was neu komponiert war. Wir singen hier vor allem die alten Lieder, die unserer Tradition entsprechen. Außerdem treffe ich so eine Entscheidung nicht allein, das hätte Ihnen Hilla Stadler eigentlich sagen müssen. Die Schwester von
Weitere Kostenlose Bücher