Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
fliegenden Händlern. Fast mit einem Gefühl von heiliger Andacht streicht Anna-Sophie über den Samt. Er kribbelt weich unter ihren Fingerkuppen. Jetzt ist ihr das Kleid noch ein wenig zu groß, aber Anna-Sophie plant, es lange zu tragen, mindestens so lange wie die hübsche Jasmina, der es am Schluss nur noch bis knapp übers Knie ging, weil sie jetzt schon fast zwölf ist. Aber das Kleid hat eine noch viel längere Geschichte. Ursprünglich hat Joes tote Frau Rosemarie es zu ihrem siebten Geburtstag bekommen, hat Hilla erzählt, als sie Anna-Sophie die Schürze ein wenig höher umgebunden hat, damit sie nicht am Boden schleift. Danach haben Hilla und Anna-Sophie sich zusammen vor den großen Spiegel gestellt, Hilla in ihrem Morgenmantel aus rotem Flanell und Anna-Sophie in dem blauen Kleid von Rosemarie. Es ist eine Ehre, das Kleid zu tragen, so hat es die liebe Oma gesagt. »Ehre, Ehre, Ehre …« Anna-Sophie summt dieses Wort, um es auf der Zunge auszuprobieren. Aber was genau ist Ehre? Mit ausgestreckten Handflächen fährt Anna-Sophie im Rhythmus ihrer Worte an ihren Beinen herunter den Samt entlang, den sie glätten will. Immer nur in einer Richtung, wie bei dem Fell einer Katze, so mag es auch der Samt, hat Oma Hilla gesagt. Die Heilige Gottesmutter Maria wird Anna-Sophie in diesem Kleid besonders gut spielen, so hat sie es der Oma versprochen. Aber jetzt gerade ist Anna-Sophie ziemlich nervös. Lampenfieber heißt das, hat der Cowboy gesagt.
Nach einer Stunde, als sie bereits kurz vor der Stadtgrenze sind, nervt es Bene, dass seine Schwester trotz der frühen Stunde unermüdlich flüsternd ihren Text probt. Am liebsten würde er sie an den Haaren ziehen, damit sie aufhört, die heiligen Sätze herunterzuleiern, aber heute traut er sich nicht. Anna-Sophie sieht verändert aus. Ihr sonst eher wildes Haar ist einer ungewohnt ernsten Zopffrisur gewichen. Anna-Sophie musste eine halbe Stunde früher aufstehen, sodass Hilla das Meisterwerk vollbringen konnte.
Das Münchner Stadtschild ist schon in Sicht, als Anna-Sophie mit einem Mal so viel Angst bekommt, dass sie am liebsten gar nicht mehr in den Kindergarten fahren würde. Tante Miriam ging es die ganze Fahrt über auch nicht gut. Bei ihr herrscht bereits seit dem Aufstehen schräge Stimmung. Als Miriam endlich aus dem Bad kam, hatte sie ihre übergroße Sonnenbrille auf, und Anna-Sophie ahnt, was das heißt. Miriam hat bestimmt Angst vor München. Die Sonnenbrille im Gesicht, den Umhang defensiv um sich gezogen, sitzt sie verkrampft auf dem Beifahrersitz. Anna-Sophie kann zwar nichts gegen ihr eigenes Lampenfieber tun, aber sie will versuchen, ihre Tante ein wenig abzulenken. Mit schmetterlingszarten Streichelbewegungen, immer in eine Richtung, wie beim Samt und bei der Katze, versucht Anna-Sophie Miriams angespanntem Nacken vom Rücksitz aus ein wenig Linderung zu verschaffen. Der Cowboy hatte sich schon morgens beschwert, weil Miriam so lange gebraucht hat, woraufhin sie ihn als feige, oberflächlich und noch viel schlimmer beschimpft hat und sich dann ins Badezimmer einsperrte. Anna-Sophie schluckt, denn sie weiß natürlich, dass ihre Tante seit einiger Zeit nicht einfach ist. Manchmal ist Miriam wütend und traurig, muss weinen und will dabei nicht gestört werden, aber wenn es vorbei ist, freut sie sich immer über liebe Worte und vor allem über ein Lied. Leise singt Anna-Sophie ihr deshalb jetzt den Refrain des alten Santa-Lucia-Liedes ins Ohr, während sie durch die volle Prinzregentenstraße fahren. Letztes Jahr, zu Santa Lucia, hatten die weiblichen Wesen der Familie dieses Lied nach alter Tradition noch zu dritt gesungen: Mama, Tante Miriam und Anna-Sophie.
Sa-anta Lucia-a-a, bringt Licht in dunkler Nacht.
Sa-anta Lucia-a-a, die so gerne lacht.
Anna-Sophie singt die kleine Strophe gleich mehrfach. Flüsternd erinnert sie dann ihre Tante daran, wie viel Spaß sie letztes Jahr zu Santa Lucia zusammen hatten, als Mama noch da war. Zu dritt hatten sie so lange eins ihrer Wettlachen gemacht, bis Bene und Papa um Gnade gebettelt hatten, damit die schrecklichen Weiber endlich mit dem Gackern aufhörten und sie den leckeren Santa-Lucia-Kuchen essen könnten. Miriam dreht sich nicht um, aber ihre Hand greift nach der des Mädchens. Still halten sie sich. Anna-Sophie glaubt zu spüren, dass ihre Mutter jetzt gerade in der Nähe ist. Der Münchner Friedensengel am Ende der Straße glänzt im ersten Morgenlicht in demselben Goldton wie der Ehering ihrer
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