Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
wirklich gern, stimmt’s? Ihnen geht es nur um Geld.« Aber da verliert auch der Engel die Contenance. Der folgende Schlagabtausch führt dazu, dass einige Eltern stehen bleiben, unter ihnen der Vater der Ersatz-Maria, die mit dem Sternenumhang zur Tür hereinkommt und Anna-Sophie die Zunge herausstreckt. Jetzt reicht es! Anna-Sophie lässt Joes Hand los und streckt ihrer Rivalin ebenfalls die Zunge raus. Dann tritt sie energisch zwischen die Streitenden und erhebt ihre Stimme laut und klar: »Ich spiele die Maria!«
Anna-Sophies anschließendes wütendes Aufstampfen entspricht Joes Gefühl. Er würde am liebsten etwas zerschlagen, so stark ist seine Wut auf die Kindergärtnerin, die immer wieder beteuert, keinerlei Verantwortung zu haben. Doch da kommt Miriam aus der Toilette. Sie erfasst sofort, was los ist, und nimmt Anna-Sophie ohne ein Wort an der Hand, um schnell mit ihr nach draußen zu gehen. Doch das Mädchen weigert sich, und auch der Cowboy denkt nicht daran, so schnell klein beizugeben. Er besteht auf Anna-Sophies Recht, hier und heute die Maria zu spielen. Jetzt mischt sich der Vater der Ersatz-Maria ein. Mit diplomatischem Lächeln stellt er sich Joe als Vorstandsvorsitzender und Kassenwart des Kindergartens vor. Man sollte die Sache ruhigeren Blutes regeln und sich nicht von Emotionen hinreißen lassen, denn es würde ja hier immerhin in erster Linie um das Wohl der Kinder gehen. Das sieht Joe ebenso. Erleichtert zückt er seine Brieftasche, holt fünf Hunderter raus und drückt sie dem Mann in die Hand.
»Reicht das fürs Erste? Kann meine Anna-Sophie jetzt die Maria spielen?«
Wie angewurzelt bleibt Miriam in der Tür stehen. Der Cowboy hat gerade meine Anna-Sophie gesagt und fünfhundert Euro auf den Tisch gelegt. Auch wenn sie weiß, dass seine Reaktion rein aus dem Bauch kommt, macht es sie glücklich, wie Joe zu dem Mädchen steht. Auch Anna-Sophie scheint ein paar Millimeter zu wachsen, als Joe ihr seine Hand auf ihre Schulter legt. Doch das Glück währt nur einen kurzen Moment. Dann eskaliert der Streit weiter, denn um Geld gehe es natürlich nicht, wie der Schnösel vom Vorstand betont, sondern weitaus tiefere Beweggründe hätten zu dieser einstimmigen Entscheidung von Elternbeirat und Kindergartenleitung geführt. Aus rein materiellen Gründen würde natürlich niemand ein verwaistes Mädchen kurz vor Weihnachten mit Absicht ihrer Marienrolle berauben. Es wäre nur ganz einfach so, dass es feste Regeln gebe. Inzwischen mischen sich weitere Eltern in die lebhafte Diskussion ein, sodass innerhalb weniger Minuten lautstark eskalierendes Gezänk den Vorraum füllt, wobei sich durchaus auch einige der Eltern für Anna-Sophies Verbleib im Kindergarten aussprechen.
Anna-Sophie drückt ihr Eselchen fest an sich. Schnell schlüpft sie zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, um in den Gruppenraum zu fliehen. Auf alle Fälle wird sie die Maria spielen. Nur deshalb trägt sie doch das Dirndl aus dunkelblauem Samt und den besonderen Zopf.
In ordentlichen Reihen stehen die kleinen Stühle vor der Bühne. Mit der endgültigen Beleuchtung sieht der ärmliche Stall mit den Tannenzweigen, den dunkelblauen Tüchern und der echten Holzkrippe noch viel beeindruckender aus als bei der Probe am Freitag. Andächtig bleibt das Mädchen vor der provisorischen Bühne stehen. Sogar ein Morgenstern aus glitzerndem Goldpapier verwandelt ihre Realität in die Welt von Josef und Maria. Die schwangere Gottesmutter wollte damals ebenfalls niemand haben. Sie wurde von allen verjagt. Um Anna-Sophie haben sich schnell einige ihrer Freunde versammelt, die ihr mit Worten, Gesten und Blicken zu verstehen geben, wie schlimm die Erwachsenen dort draußen sind. Zusammen bestaunen sie die Babypuppe, die, eingewickelt in eine echte Windel aus Stoff, in der Holzkrippe liegt. Und nicht einmal die Ersatz-Maria wagt zu widersprechen, als Anna-Sophie das Christkind aus der Krippe nimmt, es blitzschnell in ihre Schürze wickelt und diesen Kindergarten für immer hinter sich lässt.
In Molly herrscht bedrücktes Schweigen, als sie kurz darauf zu viert auf dem Weg zum Einkaufszentrum sind, wo der Cowboy seine Band treffen wird. Es ist ein scheußlicher Tag, denn auch Bene hat Ärger gehabt. Im Büro des Direktors hat die Frau vom Jugendamt bereits gewartet. Der Direktor, seine Lehrerin und die Beamtin haben Bene allerlei Fragen gestellt. Das Vormundschaftsgericht hat letzten Freitag in Miriams Abwesenheit entschieden. Gleich nach
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