Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
nähert Anna-Sophie sich und knipst seine Lampe aus, was dazu führt, dass Rudi kurz die Luft anhält. Joe zupft bereits wieder an seiner Gitarre. Diesmal ist es »Angie« von den Rolling Stones, ein Lied, das jede Frau kennt, die schon einmal in einen Cowboy verliebt war. Miriam lächelt auf dem Schmusesofa fein vor sich hin, denn Joes Gitarre lässt vor ihrem geistigen Auge Flaschendrehen, quälend langsamen Schieber mit Schwitzrändern in Polyesterhemden und vor allem endlos lange Küsse nach der Stoppuhr auferstehen. Sie muss plötzlich kichern.
Anna-Sophie setzt sich wieder zu Miriam. Zusammen hören sie Joe beim Gitarrespielen zu. Leise flüstert Miriam der Kleinen eine Warnung ins Ohr, die sie für eine unersetzliche Lebensweisheit für heranwachsende junge Frauen hält.
»Verlieb dich niemals in einen Gitarristen!«
Anna-Sophies Gesicht ist Neugierde pur.
»Warum?«
»Gitarristen sind die Allerschlimmsten!«
»Wieso?«
»Sie brechen dir das Herz.«
Anna-Sophie überlegt einen Moment, sieht Miriam dann mit traurigen Augen an und schüttelt ihren Kopf. Ihre Stimme ist ein kaum hörbares Flüstern.
»Mein Herz kann nicht mehr brechen.«
Miriam nimmt die Kleine fest in die Arme und verflucht sich innerlich. Lautlos schickt sie ein Stoßgebet. Bitte, liebe Schwester, sorg dafür, dass ich eine brauchbare Mutter werde.
Bene mag das Gefühl der Conga unter seinen vibrierenden Händen. Vom Spielen sind sie warm und ein wenig feucht geworden. Es gefällt ihm, bei den Männern zu stehen, die mit ihren Instrumenten fest verwachsen scheinen so wie in dem Streichquartett seiner Mutter, mit dem Bene aufgewachsen ist. Bene erinnert sich gerne an das Streichquartett, das nur aus Frauen bestand. Im letzten Jahr, kurz vor dem Unfall, kam es wegen der neuen ersten Geige zum Zerwürfnis der Frauen. Aber bis dahin war das Frauenquartett durch zwei Schwangerschaften und einige Krisen hindurch eine Gemeinschaft gewesen, die seiner Mutter viel Halt gegeben hatte. »Las Stringolinas« hatten sich die vier Frauen genannt, obwohl keine von ihnen einen Tropfen spanisches Blut in den Adern hatte. Vier Monate vor dem Tod seiner Eltern, als das Quartett zerbrach, hatte Bene wissen wollen, wie es zu der Trennung gekommen war. Es war das erste Mal, dass er seine Mutter auf die »Wessis« schimpfen hörte, die alles Schöne kaputt machen, weil sie es nicht leiden können, dass andere einen Gemeinschaftssinn haben. Das sei vor der Maueröffnung anders gewesen. Auf der Deutschlandkarte hat sie Bene den Vorhang aus Eisen, Beton und Stacheldraht gezeigt. Die Absperrung sollte bestimmte Menschen drinnen, also in der DDR, aufbewahren und andere draußen, in Westdeutschland. Man durfte sich gegenseitig nicht stören bei der Suche nach Glück und Wahrheit, für die es andere Regeln gab, die bei Bedarf bis aufs Blut verteidigt werden mussten. Bene war fasziniert von dieser Idee. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch nach Dresden fuhren, mussten Carola und Wassili es ihm erneut erklären. Es war unfassbar für den Jungen, ein eiserner Vorhang, um die Menschen im Westen auszusperren, damit sie das Glück im Osten nicht stören. Aber welches Glück? Hatte das Glück mit Geld zu tun? Und wenn ja, in welchem Maße? Armut ist schrecklich, findet Bene, seit er Armut hautnah erfahren muss. Er hatte gelernt, im Supermarkt zu stehlen, damit Tante Miriam ihnen Abendessen kochen kann, immer nur so viel, wie sie brauchten. Nur von Nudeln und Reis mit Ketchup werden Kinder einfach nicht satt.
Die »Stringolinas« seiner Mutter waren am Geld zerbrochen, so viel hatte Bene mitbekommen. Die vier Frauen stritten sich bei ihnen am Küchentisch nach den Proben immer häufiger, statt zu lachen wie früher, als alles noch gut war. Jetzt ging es ständig ums Geld. Die neue erste Geige wollte mehr für ihre Auftritte haben. Jung, ehrgeizig und uninteressiert an Carolas Kindern, wollte die erste Geige die Anzahl an Konzerten pro Jahr verdoppeln. Bene erinnert sich gut an die Einwände seiner entrüsteten Mutter. Aber vielleicht hatte sie ja unrecht, denkt Bene heute. Vielleicht wäre mehr Geld gar nicht schlecht gewesen. Tante Hedi, die dürre Cellistin und Älteste im Bunde, hatte nach der Trennung von ihrem Mann immer zu wenig Geld. Sophia, zweite Geige und von Anfang an dabei, brauchte ein neues Auto. Bei Carola und Wassili war Geld oft knapp, sodass sie ständig rechnen mussten. Bene wünschte sich damals unbedingt einen Gameboy zu Weihnachten. Er hatte deshalb Partei
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