Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
wieder reden, manchmal lachen und ihr Stück von vorne beginnen, findet Anna-Sophie wunderbar. Diese Töne sind ihr seit frühester Kindheit vertraut. Summend wiegt sie ihre Puppe in den Armen und sinkt in die wohlige Wärme des Schlafsackes, als sie eine Bewegung an der Treppe wahrnimmt. Sofort ist sie hellwach. Dort steht der Weihnachtsmann, der laut Aussage des Cowboys ein verschuldeter Rudi ist und kein Himmelsbote. Die Querflöte über der Schulter und einen altmodischen Rucksack auf dem Rücken, kommt der Dicke mit schwerem Schritt die Treppe herunter. Rudi winkt den Musikern und dem Jungen zu, macht eine leichte Verbeugung in Richtung der telefonierenden Miriam und verzieht sich in eine hintere Ecke des Raumes, abgeteilt durch ein gigantisches Wagenrad. Anna-Sophie hat er in ihrem Deckenhaufen nicht bemerkt, da sie sich vor Schreck geduckt hat. Was ist, wenn Joe unrecht hat und dieser Rudi doch der echte Weihnachtsmann ist, der nachschaut, ob alle Kinder rechtzeitig in den Betten liegen? Dann würde es keine Geschenke geben, so hatte es die Kindergärtnerin vor ein paar Tagen erzählt. Gespannt hält Anna-Sophie den Atem an und beobachtet von ihrem Versteck aus, wie Rudi alias der Weihnachtsmann hinter den Speichen des großen Wagenrads eine Lampe anmacht. Die erleuchtete Form, die Anna-Sophie sofort wiedererkennt, gleicht einem gestürzten Vanillepudding. Für nur einen Euro hatte Anna-Sophies Papa ihr fünf von den Puddinglämpchen gekauft, als sie mit Florian eine Theateraufführung machen wollte, die hauptsächlich aus ihrer Hochzeit bestand. Das war kurz vor Weihnachten gewesen, dem letzten Weihnachten mit Papa und Mama. Ihr Papa hatte sich in dem riesigen Laden darüber gefreut, dass die Puddinglämpchen billig und unkaputtbar sind. Unkaputtbar findet Anna-Sophie ein wunderbares Wort. Leise sagt sie es vor sich hin und versucht sich dabei genau an den fröhlichen Tonfall ihres Vaters zu erinnern. Un-ka-putt-baaaa. So hatte der Papa geklungen.
Ob dieser Rudi nicht doch der Weihnachtsmann ist? Vielleicht hat er irgendwie mit dieser Wolke zu tun, auf der laut Tante Miri Menschen sitzen, wenn sie von einem Laster totgefahren worden sind. Ob Rudi ihre Eltern kennt? Mit angehaltenem Atem beobachtet Anna-Sophie, was er als Nächstes tun wird. Rudi, alias Weihnachtsmann mit Flöte, schnallt beim Schein der Puddinglampe seine Schlafmatte vom Rucksack und rollt sie aus. Dann öffnet er den Rucksack und fördert Bettwäsche zutage. Lächelnde Clownsgesichter und Luftballons auf grellrosa Hintergrund. Dem Weihnachtsmann ist das egal. Ächzend zieht er in seiner Ecke hinter dem Wagenrad einen Schlafsack hervor. Er schüttelt ihn ein wenig, als wolle er sich vergewissern, dass keine Mäuse drin sind. Dann legt er den Sack sorgfältig über die Clownsgesichter und beginnt seine rote Kleidung abzulegen. Ordentlich faltet er alles zusammen, bis er am Schluss zu seiner Bommelmütze nur noch einen Thermoanzug aus weißer Waffelbaumwolle trägt.
Anna-Sophie muss laut lachen, weil Rudi komisch aussieht, duckt sich aber dann schnell, um nicht entdeckt zu werden. Aber Rudi ist völlig auf sich konzentriert. Um sein Outfit zu vervollständigen, zieht er Hausschuhe aus seinem Rucksack, deren Fußspitzen mit Geweihen aus braunem Filz verziert sind.
»Das sind ja Elche!«
Durch den spitzen Schrei des Entzückens, der Anna-Sophie bei dem Anblick der Hausschuhe entfährt, wird der Alte jetzt doch auf sie aufmerksam. Es folgen ein Grinsen sowie eine Art Minischuhplattler für die Kleine, sodass die Geweihe an den Füßen fröhlich im Takt wippen. Mit einer kleinen Verbeugung, nun in Anna-Sophies Richtung, verschwindet der Weihnachtsmann mit Zahnbürste und Handtuch in einem hinteren Gang. Beglückt von dieser Überraschung, von der sie am Montag im Kindergarten erzählen wird, wirft Anna-Sophie einen letzten zufriedenen Blick in die Runde. Es war ein schöner Tag. Obwohl Florian krank war, durfte sie dank Joe die Maria spielen. Sie hat einen neuen Freund, der das schönste Taxi der Welt besitzt, und jetzt schläft der Weihnachtsmann bei ihr im Zimmer …
Anna-Sophies Augenlider werden schwer. Die Musiker spielen ein ihr vertrautes Lied. Das Mädchen lächelt im Halbschlaf und tastet nach der Hand, die ihr jetzt zärtlich über die Wange streicht. Miriam hat sich neben der Kleinen niedergelassen, um ihr den üblichen Gutenachtkuss zu geben, aber so weit kommt es nicht. Jeder Ton des Liedes lässt verschlossene Schleusen in Miriam
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