Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Keyboard. Joe gibt sich Mühe. Na gut. Soll sie eben, wenn sie muss. Seine Gitarre unterstützt sanft die Melodie. Auch Benes Hände beginnen den Rhythmus zu dem Lied aus seinem verlorenen Königreich zu schlagen. Miriam beginnt leise und zärtlich ins Mikrofon zu singen.
Stars shining bright above you.
Night breezes seem to whisper »I love you«.
Birds singing in the sycamore tree.
Dream a little dream of me.
Say nighty-night and kiss me,
Just hold me tight and tell me you’ll miss me.
While I’m alone and blue as can be,
dream a little dream of me …
Auch ohne sich nach Conni und Bärli umzudrehen, weiß Joe, wie beeindruckt seine Freunde sind. Miriam hat ein wunderbares Timbre in ihrer weichen, tiefen Stimme. Von der Sonne beschienene Wälder fallen Joe dazu ein und sanft schnurrende Katzen. Aber bestimmt lässt er sich nicht zu einem verfrühten Lob hinreißen, denn wenn man es genau nimmt, war das Lied bisher noch keine wirkliche stimmliche Herausforderung. Die steilen Klippen kommen erst noch.
Miriam wartet ihren nächsten stimmlichen Einsatz mit unsicherem Lächeln ab. Die Kleine in ihr hat begonnen, sich zu rühren. Das vertraute Bühnenkribbeln in ihr, das langsam von der Kopfhaut nach unten rieselt und sich hinter ihren Augäpfeln ballt wie ein Versprechen, ist vielleicht nicht gut für ihr kleines Mädchen. Miriam beginnt zu fühlen, was sie schon immer gefühlt hatte, sobald ihr Lampenfieber überwunden war. Alles um sie herum wird klarer und irgendwie heller. Tief in ihrem Inneren liebt Miriam die Bühne. Es ist, als würden sich in ihr Flügel ausbreiten. Ihre Zehen verlieren jegliche Bodenhaftung, ganz so, als könnte Miriam abheben. Es ist Zeit, die Augen fest zu schließen und sich ganz auf die Töne zu konzentrieren. Dann kann sie noch besser singen. Aber als sie die Augen schließt, ziehen die Bilder des Tages an ihr vorbei. Die zehnspurige Autobahn, auf der sie mit einer einzigen Handbewegung sämtliche Todesbringer anhält, damit sie mit den Kindern auf die sichere Seite gehen darf. Die Christrose, die wie in Zeitlupe ein weiteres Blatt entrollt, unter dem sich eine Blüte verbirgt. Die nackte Tochter in ihrem Inneren, die ihre Arme ausbreitet, um gemeinsam mit ihr zu Carola und Wassili und zur Amazonenkönigin zu fliegen. Miriams Stimme beginnt, die steilen Klippen zu erklimmen, nicht wissend, ob sie weinen oder lachen soll.
Stars fading, but I linger on, dear.
Still craving your kiss.
I’m longing to linger till dawn, dear.
Just saying this.
Sweet dreams till sunbeams find you.
Sweet dreams that leave all worries behind you.
But in your dreams, whatever they be,
dream a little dream of me.
Say nighty-night and kiss me.
Oh, hold me tight and tell me you’ll miss me.
While I’m alone and blue as can be,
dream a little dream of me.
Dream a little dream of you and me …
Klonk. Das Handy, mit dem Miriam vorhin telefoniert hat, fällt aus ihrer Sweatshirttasche, prallt von Joes Cowboystiefel ab und bleibt liegen. Erstarrt hält Bene die Luft an. Das Handy hat alles verdorben. Es ist vorbei. Bevor Miriam sich bücken kann, wiegt Joe das verräterische Teil bereits in seiner Hand. Er drückt die rote Taste. Mit asiatisch gefärbtem Englisch krächzt es in die peinliche Stille.
Hello, how are you? What is your name? Are you happy today?
Es ist ein Spielzeughandy. Bevor Joe es verhindern kann, steigt eine Woge aus dunkelrotem Schaum in ihm hoch, die sich in beißenden Worten ergießt.
»Ich hab es dir gesagt – keine Lügen mehr!«
Joe hat ihr gesagt, dass Vertrauen für ihn am allerwichtigsten sei, weil er mit Lügnern nicht umgehen könne und auch nicht umgehen wolle. Er war schon einmal an einer Lüge gescheitert, obwohl er sich Mühe gegeben hat, die Lüge im Nachhinein als Wahrheit zu begreifen und anzunehmen. Sie hatte ihn getäuscht, um seine Liebe nicht zu verlieren. Das hatte seine Liebste damals zu ihm gesagt, als sie auf dem Sterbebett lag. Aber Joe konnte ihr nicht verzeihen, kann es bis heute nicht. Es tut auch jetzt noch so weh, dass er um sich schlagen will. Er möchte sie alle schlagen, seine beiden Freunde und den Jungen, der betroffen an seiner Seite steht. Joe möchte sogar Rudi rauswerfen, der friedlich unter seiner Clownsdecke schnarcht. Auch das kleine Mädchen mit der scheußlichen Puppe will er loswerden, weil er alleine sein will mit seiner Unfähigkeit. Seine Fäuste ballt er krampfhaft zusammen, um die Kontrolle nicht zu verlieren, so wie
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