Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
weil Joe noch nicht einmal behauptet hat, mehr als Sex zu wollen, waren die Frauen eine Zeit lang verrückt nach ihm gewesen. Jede hatte sich vorgenommen, den traumatisierten Gitarristen zu heilen und zurück zur Liebe zu führen, aber sie waren alle gescheitert. Im Endstadium brachte der gefühllose Dauersex vor allem Schmach mit sich, denn Joe konnte gar nicht mehr. Er bekam keinen mehr hoch und wandte sich nach einigen beschämenden Versuchen den Drogen zu, um endlich inneren Frieden zu finden. Es war wunderbar, in Molly durch die Straßen zu gleiten und Musik zu hören, während Joe innerlich auf einem anderen Stern spazieren ging. Unantastbar hatte er sich unter Drogen gefühlt, bis er eines Tages einer Streife gegenüberstand. Beim ersten Mal wurde nur zu viel Alkohol festgestellt, was keine größeren Konsequenzen nach sich zog. Wenn man als Münchner Taxler Bayerisch spricht und glaubhaft ein oder zwei gängige Wirtshäuser aufzählen kann, wo einen die Kumpels zum Anstoßen genötigt haben, kann man Milde erwarten. Zwei Kästen gutes Bier hat Joe am Tag drauf ins Revier Löwengrube gestellt, und seine Mutter kam angefahren und hat einen frischen Zwetschgendatschi gebracht, da es im September auf dem Land ohnehin viel zu viele Zwetschgen gibt. Doch ein halbes Jahr später, als Molly diesmal rein routinemäßig angehalten wurde, konnte auch seine Mutter nicht mehr viel tun. Joe hatte eine Aktentasche dabei, die er einem Freund überbringen sollte. Die Tasche war randvoll mit Kokain. Der Dealer aus Bonn, schleimig und biegsam, aber vor allem mit einem reichen Vater gesegnet, ließ eine ganze Armada von Anwälten nach München einfliegen. Joe wurde zum Sündenbock gemacht. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Man spielte Düsseldorfer Geld gegen Münchner Ehre, aber München hat wacker für Joe gekämpft, und er kam letztendlich mit einer Bewährungsstrafe davon.
»Fahren wir über Dachau?«, stellt Miriam ihm unvermittelt eine Frage und sieht selbst ein wenig erstaunt aus.
Ihre Stimme reißt Joe abrupt aus seinen Gedanken.
»Nach Dachau willst?«
»Nein, ich will nicht nach Dachau, sondern ich will nur wissen, ob wir über Dachau fahren.«
»Na. Wir fahren in die andere Richtung. Aber wie kommst denn du jetzt plötzlich auf Dachau?«
Joe wagt einen vorsichtigen Seitenblick. Miriams unheimlicher Bauch ist jetzt wieder züchtig mit dem Unhang bedeckt. Das Gewoge hat Pause. Dafür sprühen ihre grünen Augen jetzt Feuerfunken.
»Ihr in Minga redet nicht so gerne über Dachau, oder?«
»Wie kommst jetzt ausgerechnet auf Dachau? Ich meine, ich hab auch grad an Dachau denken müssen …«
Joe war damals kurz vor Dachau mit den Drogen erwischt worden, aber das konnte Miriam unmöglich wissen, außer natürlich, sie kann seine Gedanken lesen. Prüfend sieht er sie an, aber Miriam weiß es selber nicht so genau.
»Ich musste einfach plötzlich an Dachau denken. Ich wollte wissen, ob wir vielleicht dran vorbeikommen, weil wir dann kurz mal da rausfahren und anhalten könnten … Es hätte ja sein können.«
»Na. Des wär’ jetzt a Riesenumweg. Wir sind schon fast bei der Salzburger Autobahn. Des würde uns a gute Stund’ extra kosten.«
Miriam nickt und wendet ihr Gesicht von Joe ab, um aus dem Fenster in die Nacht zu sehen. Trostlose Sozialwohnungen aus den Fünfzigerjahren säumen die letzten Ausläufer des östlichsten Stadtteils. Nur noch vereinzelt brennt Licht in den Fenstern, aber dafür blinkt die eine oder andere Weihnachtsdekoration, eine sogar in den Farben der amerikanischen Flagge. Miriam kann nicht anders, in ihr rasen mit einem Mal Gedanken an Krieg, Zerstörung und Vernichtung. Immer in der Weihnachtszeit überkommt Miriam die große Trauer darüber, dass sich menschliches Leid durch Kriege wohl nie ändern wird. Solange es menschliche Gier und Ignoranz gibt, wird es Kriege und noch viel Schlimmeres geben. Joe sieht sie neugierig von der Seite an.
»Warum willst du nach Dachau?«
»Ich will nicht nach Dachau, keinesfalls will ich nach Dachau.«
»Aber gerade wolltest du noch.«
Ungutes Schweigen, während Miriam sich noch weiter in Richtung Fenster dreht, sodass Joe nicht sehen kann, wie wütend sie gerade wird. Aber Joe gibt nicht nach.
»Was ist in Dachau?«
Miriam lacht ein kurzes, bitteres Lachen.
»Jedes Kind weiß, was in Dachau ist.«
»Du meinst die Gedenkstätte?«
Miriams Stimme ist gehässig.
»Gedenkstätte! Das klingt aber harmlos, fast so wie Namenstag,
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