Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
eine intensive buddhistische Phase durchlief. Thrinley und Jigme gehörten Hannah und Carola. Tensing, der absolute Starsänger, gehörte Miriam. Besonders bei Regen lief der fast dunkelorange Solist zur Bestform auf, sodass selbst die sonst so unausstehliche Nachbarin, Frau Kern aus dem Souterrain, Miriams Sänger auf der Terrasse bewunderte.
Die Stimme des Cowboys klingt jetzt beinahe zärtlich in Miriams Ohr, als er ihr im Wartehäuschen die vorsichtige Frage stellt, warum sie weint. Tatsächlich laufen Miriam jetzt lautlos Tränen über die Wangen. Laut Hannah war Tensings plötzlicher Tod ganz alleine Miriams Schuld. Sie war als pubertierendes Mädchen wieder einmal unachtsam gewesen und hatte den Käfig offen gelassen.
Miriam schüttelt Joes vorsichtige Hand auf ihrem Arm ab und ranzt ihn trotzig an, weil sie sich für ihre Gefühle schämt.
»Ich weine nicht! Und selbst wenn ich weinen würde, könntest du nicht verstehen, warum, weil du es albern finden würdest. Du würdest mich auslachen …«
Sie wird Joe nicht in die Augen sehen. Sie wird diesem Cowboy, der sie ohnehin nicht verstehen kann, bestimmt nicht erklären, warum sie sich gerade wie eine Zwölfjährige fühlt, die von ihrer Mutter zu Unrecht abgekanzelt wird. Es war keine Absicht. Sie wollte nie, dass Tensing etwas zustößt, weil sie ihren Kanarienvogel geliebt hat. Warum kommen nur gerade jetzt diese Gefühle in ihr hoch? Das muss dem Cowboy zumindest bizarr erscheinen, wenn nicht sogar völlig geistesgestört. Fieberhaft sucht Miriam nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für ihren erneuten Gefühlsaubruch, denn der Cowboy bleibt hartnäckig vor ihr stehen. Miriam fällt nur der gängige Allgemeinplatz ein.
»Irgendwie ist alles so verdammt verfahren … ich seh so gar kein Licht mehr im Tunnel …«
Der Cowboy nickt. Damit kann er etwas anfangen.
»Komm! Ich bring euch drei hoam zu mir. Da könnt ihr euch das Wochenende ausruhen. Ihr müsst raus aus der Stadt, besonders die Kinder. Sonst werds am End’ alle drei noch krank.«
Aber Miriam reagiert nicht. Sie weint immer noch, völlig lautlos, denn in ihr türmt sich ein elendiges Versagen auf das andere. Sie verschließt sich erneut in ihrer inneren Welt. In gewisser Weise hatte Miriam Schuld an Tensings Tod. Sie hatte seine Käfigtür aus Versehen offen gelassen, als eine Freundin von ihr an der Wohnungstür klingelte. Tensing, der sonst nie seinen Käfig verlassen wollte, war neugierig geworden. Wahrscheinlich war es die blühende Linde vor dem Fenster, die ihn gelockt hatte. Durch die Wucht des Aufpralls an dem Glas der Balkontür war sein Köpfchen zerschmettert. Hier in Shambala kann sie ihn ja vielleicht wieder zum Leben erwecken. Miriam streicht zart über den Federflaum an Tensings Kopf, und wie immer, wenn in Shambala ein Wesen ein anderes berührt, beginnt beim Kontakt zwischen Leben und Tod ein feines Kribbeln. Die Berührung der Toten, der neuen Ankömmlinge, die einen Energietransfer benötigen, ist der Königin überlassen. Miriam nimmt wahr, wie ihre Berührung die Starre in Tensings verkrampftem linken Flügel löst. Er wird in Shambala bald wieder singen, und eine Voliere wird Miriam ihm bauen müssen, groß genug für eine Kanarienvogelfrau und jede Menge Kanarienvogelkinder. Trotzdem versteht Miriam nicht, warum Tensing so lange bis nach Shambala gebraucht hat und warum Hannah ihn ihr ausgerechnet heute bringt. Hat es mit Joe und den Kindern zu tun? Statt zu antworten, rümpft Hannah ihre Nase, denn Joes Biergeruch macht sich jetzt auch im Allerheiligsten breit. Der auferstandene Kanarienvogel auf dem Fensterbrett verliert seine Farbe, und kurz darauf beginnt ganz Shambala vor Schreck zu verblassen.
»Du musst aufstehen!«
Der Cowboy nimmt Miriam am Arm und zwingt die vor Kälte Bibbernde, ihre Augen aufzumachen und aufzustehen. Miriam gehorcht widerwillig. Gleich wird ganz Shambala weg sein, aber sie hat keine Kraft, dem Cowboy zu widersprechen, und lässt sich von ihm in Richtung Molly ziehen. Aber ihr ist mit einem Mal so weh ums Herz, dass sie nur noch an eines denken kann. Wenn sie es das nächste Mal bis nach Shambala schafft, muss sie so schnell wie möglich zu den Mönchen in die Berge, um sich Rat zu holen. Miriam muss wissen, was von ihr gefordert wird, damit es ihr und den Kindern auf der Welt gut geht, und warum nicht endlich ihre Schwester kommt, um ihr zur Seite zu stehen. Sie weiß nicht, ob Joe ein Freund ist oder ob sie es nur mit einem
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