Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
eine Ritzerin ist und zweifelsohne einen Schatten hat. Vielleicht. Joe seufzt. Miriam ist wirklich die erste Frau, die er seit damals heim zu seinen Eltern bringt. Plötzlich bemerkt er, wie spät es ist. Kurz vor Mitternacht. Er muss zu Hause anrufen.
Gegen die Scheibe des Beifahrerfensters gelehnt, lauscht Miriam Joes Stimme beim Telefonieren im tiefsten Dialekt. Ihren Umhang legt sie wie eine schützende Decke um sich und das Baby. Ihr ist trotz Mollys warmem Gebläse auf einmal merkwürdig kalt. Gegen das innerliche Frösteln versucht sie, ihre klammen Stiefel abzustreifen. Ihre steif gefrorenen Zehen leisten Schwerstarbeit. Schließlich ist das Werk vollbracht. Mollys Heizung brummt wie ein altmodischer Föhn, genau die richtige Ergänzung zu dem unverständlichen bayerischen Gemurmel des Cowboys. Seine bayerische Mundart klingt fast wie eine Fremdsprache, aber die Pingpongbälle des Gesprächs sind ihr vertraut. Zwischen Mutter und Sohn geht es zunächst um allerlei schändliche Unterlassungen, wie der Geburtstag der alten Tante Sigrun, den Joe wieder einmal verschwitzt hat. Und natürlich hat er ebenfalls vergessen, dass er dem Pfarrer am ersten Advent versprochen hat, sich etwas für die Aufführung des lokalen Kirchenchors zu überlegen. Ja, Mama, ist gut, Mama. Doch, ich kümmere mich drum, Mama. Und nein, ich weiß, wie spät es ist. Es folgt eine Kurzbeschreibung seiner drei Passagiere, garniert mit Joes charmanter Bitte um Quartier für das Wochenende. Seine Beschreibung von Miriam und den Kindern zaubert ein Lächeln auf ihre Lippen. Charmant sein kann dieser Mann, stellt sie noch verschlafen fest, während sie sich von Mollys Gebläse zurück nach Shambala tragen lässt.
Als Miriam kurz darauf die Stufen der Wendeltreppe in ihrem Palast hinaufgeht, registriert sie erfreut, wie gut Architekten und Handwerker in ihrer Abwesenheit gearbeitet haben. Nur an einer Stelle erinnert ein Gerüst an das Erdbeben. Miriam hört Vogelgesang im Haus. Es ist nicht irgendein Trällern, sondern ihr Solist Tensing. In freudiger Erwartung öffnet sie eine Tür nach der anderen, kann aber den Vogel nirgendwo finden. Dann hört sie ein weiteres ungewohntes Geräusch. Ein Baby weint in ihrem Palast. Miriam überkommt Panik. Als Königin von Shambala ist sie niemals schwanger gewesen, und auch jetzt ertastet sie in dem edlen seidenen Kleid ihre schmale Taille. Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckt sie. Was ist, wenn ihr Baby nur in Shambala leben kann?
»Soll ich die Heizung abstellen? Ist dir jetzt zu heiß?«
Joes Stimme bringt Miriams Palast erneut ins Wanken. Sie wird von einem warmen Windzug von der Palasttreppe weggesaugt, öffnet erschrocken im Taxi die Augen und fasst sich an die Stirn. Da ist tatsächlich Angstschweiß auf ihrer Stirn. Ihre Hände zittern, als sie panisch ihren Bauch abtastet. Miriam fühlt die vertrauten Wölbungen des Rückens, des Popos und der Fersen ihrer Tochter, die sich unter der Haut abzeichnen. Aber es ist merkwürdig ruhig da drin. Alles in Ordnung, hatte die Hebamme ihr zwar versichert, denn das kleine Mädchen hatte sich planmäßig in die Endlage gebracht. Sie wartet nur noch auf den richtigen Augenblick für ihre Geburt, versucht Miriam ihre unruhigen Gedanken zu besänftigen. Aber wer will schon in diesen unwirtlichen Winter hineingeboren werden, ohne Wohnung, ohne Geld und ohne Zukunft? In Shambala wäre alles da, und selbst wenn bisweilen ein Erdbeben Miriams Turm erschüttert, so gibt es doch alles andere im Überfluss. Eine Hand aus Stahl umfasst Miriams Hals und schnürt ihr die Luft ab. Sie könnte es nicht ertragen. Von ihrem Baby getrennt zu werden wäre auch ihr eigener Tod. Miriam braucht einige Sekunden, um sich eine neue Strategie zu überlegen, aber dann weiß sie, was zu tun ist. Miriam atmet tief durch, so tief sie kann, durch ihr Herz hindurch, in die Plazenta und bis in das heftig klopfende Herz dieses Wesens hinein, das beschlossen hat, sich ausgerechnet Miriam als Mutter auszusuchen. Dann wischt sie sich den Angstschweiß von der Stirn.
»Doch, ja, mir ist zu heiß … und ich habe auch irgendwie Angst. Ich weiß nicht, wie es in Zukunft weitergehen soll mit mir alleine und den drei Kindern. Hast du eine kluge Idee?«
Während der Cowboy an den Knöpfen dreht und das Gebläse leiser wird, überlegt sie sich fieberhaft, warum Joe ihren Blick meidet und auch ihre Frage nicht beantwortet. Doch die Antwort liegt auf der Hand. Es ist die gleiche Antwort, wie Miriam
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