Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Biergeruch verströmenden Wichtigtuer zu tun hat, der ihnen letztendlich gar nicht helfen will.
»Nicht so schnell!«, wehrt sich Miriam gegen seinen festen Griff. Jeder Schritt ist Folter für ihre von der Kälte tauben Füße. Sie wäre um so vieles lieber in Shambala, wo sie ihren Körper nicht spürt. Mit bibbernden Lippen fleht sie Joe an, sie vielleicht doch ganz einfach in dem Wartehäuschen sitzen zu lassen. Aber der Cowboy zieht sie umso energischer mit sich zum Taxi.
Miriam schließt ein letztes Mal kurz ihre Augen. In Shambala beginnen die blauen Berge jenseits der Ebene bereits zu erzittern. Von dem Erdbeben bekommen einige der filigranen Häuser erste Risse, und die jungen Männer lassen vor Schreck ihren Schwarm von Schmetterlingsdrachen los. Wie ein lebendiges Wesen stehen die acht Drachen einen kurzen Moment wie erstarrt in der Luft. Dann formen sie, den Zugvögeln gleich, eine Pfeilformation und ziehen gen Norden, wo Shambalas großes Meer beginnt. Für heute wird Miriams geheimes Land geschlossen bleiben. Ob Miriam will oder nicht, sie wird mit dem Cowboy vorliebnehmen müssen, denn Joes Stimme klingt jetzt rau vor Sorge an ihrem Ohr.
»Ist es das Kind? Kommt das Kind?«
Miriam blickt in Joes tief beunruhigte Augen.
»Nein! Mein Kanarienvogel ist nur gerade gestorben.«
Schweigen. Dann sein erleichtertes Lächeln. Er denkt, sie hat einen Witz gemacht. Joe mag Humor. Um ihn in seinem naiven Glauben zu belassen, lächelt Miriam betont harmlos zurück. So ein Lächeln zieht bei Männern immer, denn es beruhigt sie ungemein, und zudem findet Miriam es wirklich freundlich, dass Joe ihnen ein Quartier für die Nacht anbieten will. Als sie die Straße überquert haben, fügt Miriam noch ein paar beruhigende Worte der Erklärung hinzu.
»Ich weiß ja, dass es nett gemeint ist, dass du mich aus dem Wartehäuschen retten willst, aber manchmal bin ich durch die Schwangerschaft so erschöpft, dass ich einfach kurz schlafen muss. Danach geht es mir dann besser … körperlich besser.«
Joe nickt, mehr als erleichtert, dass sie endlich wieder auf einer gemeinsamen Bewusstseinsebene gelandet sind. Mit Körpern kann er etwas anfangen.
Noch ein Lächeln von Miriam, diesmal ein tiefes, das ihre Dankbarkeit zeigt, als er ihr mit dem Anschnallen hilft. Dann setzt der Cowboy sich neben sie, atmet tief durch und startet Mollys Motor.
»Zu meinen Eltern müssen wir noch a knappe Stund’ fahren, aber du wirst sehen, dass es sich lohnt. Bei uns im Chiemgau habt ihr übers Wochenende mehr als genug Platz …«
Die beiden Kinder auf der Rückbank sind vor Seligkeit mucksmäuschenstill. Als Joe losfahren will, kneift er kurz die Augen zusammen und besieht kritisch den schwarzen Strich inmitten der Leuchtreklame mit dem thailändischen Palmenstrand.
»Koa Mensch will mitten in dieser schönen Straße so an blöden Strand sehen! Und dann is die blöde Reklame auch no hi.«
Miriam nimmt an, dass sein »hi« sich auf die kaputte Leuchtzelle bezieht. Aber was der Cowboy mit »schöne Straße« meint, kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Miriam sieht sich um. Düstere Häuser im Schneegestöber, die Fassaden ergraut von Alter und Abgasen, ergeben alles in allem ein Bild von Trostlosigkeit. Dieser eigenartige Mann findet desolate Städte im Winter ansprechend. Jetzt ist Miriams Lächeln beinahe echt, denn Joe muss mindestens so verrückt sein wie sie.
»Na ja … für mich ist schön was anderes.«
Der Cowboy folgt ihrem Blick und versteht.
»Schönheit liegt im Auge des Betrachters.«
Dazu sieht er sie wieder auf die Art und Weise an, die Miriam bereits vorhin im Übungskeller gefährlich zu werden drohte.
»Ich seh halt mehr als du. Es ist mein Minga. Und mein ganz privates Minga ist immer schön … schön wie …«
»Minga?«
»Minga ist München für Eingeweihte.«
Sein Satz kommt sicherheitshalber in makellosem Hochdeutsch.
»Ah ja? Hab ich noch nie gehört. Klingt aber nett. Minga.«
»Minga ist das München, das nur jemand sieht, der begreift, dass Minga zwar das Herzstück von Bayern ist, aber nicht die Seele …«
»Oh …?«
Plötzlich wieder hilflos, lächelt Joe, denn in Miriams fragendem Gesicht meint er Verachtung zu erkennen. Das geht ihm oft so, wenn er Hochdeutsch spricht. Er meint zu spüren, dass die Leute ihn verachten, weil er versucht, sich anzubiedern. Trotzdem redet Joe weiter so, denn er möchte, dass sie etwas versteht, das ihm sehr wichtig ist.
»Die Seele von Minga
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