Mariana: Roman (German Edition)
ihn zärtlich in meiner Handfläche, während ich versuchte, die aufsteigenden Tränen in meinen Augen zurückzudrängen.
»Denk an den Falken, Mariana Farr«, sagte er sanft, »und suche nicht mit deinen Augen nach mir, sondern mit deiner Seele. Die Seele sieht, worauf es wirklich ankommt.«
Eine einzelne Träne fiel mir heiß aus dem Auge und rollte meine Wange hinunter, und er fing sie mit einem Finger auf. Ich versuchte, ihn anzulächeln, aber es gelang mir nicht, und als mein Mund zu zittern begann, zuckte Schmerz in seinen Augen auf, und er legte die Hand um meinen Kopf und zog ihn zu sich herab.
Ich schmeckte das Salz auf meinen Lippen und den bitteren Geschmack von Blut auf den seinen. Es war ein verzweifelter Kuß, ein Kuß, den Liebende sich beim Abschied geben, ein Kuß der Trauer und des Bedauerns und eines blinden, wortlosen Versprechens. Ich wollte mich aufrichten, als er zu Ende war, aber Richard hielt mich fest und strich mit der Hand über mein Haar.
»Ich füge deiner Brust noch mehr Schmerz zu«, protestierte ich, aber er schüttelte den Kopf.
»Ich bin jenseits aller Schmerzen«, log er, »und ich habe mir immer gewünscht, in den Armen meiner Liebsten zu sterben.« Seine Worte klangen undeutlich, und nach ein paar Minuten wurde die Bewegung seiner Hand auf meinem Haar langsamer und hörte dann ganz auf.
Meine Brust zog sich zusammen. »Verlaß mich nicht.« Die Bitte brach in einem gequälten Flüstern aus mir heraus, das ich nicht aufhalten konnte. »Oh bitte, Richard … bitte bleib bei mir …«
»Hab keine Angst«, sagte er und streifte mein Haar mit einem Kuß. »Ich bin unzerstörbar, erinnerst du dich? Ich muß nur eine Weile schlafen.«
Ich hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Selbst in dem wenigen Licht konnte ich die gefürchtete Wahrheit erkennen. »Oh bitte, Gott, nein. Richard …«
»Ein andermal«, versprach er. Er lächelte und schloß die Augen.
Nach einer langen Weile legte ich mein Gesicht an seine Schulter und ließ meinem Kummer mit tiefem, schüttelndem Schluchzen seinen Lauf, und ich spürte nichts mehr als den hohlen Schmerz der Trauer. Ich versuchte verzweifelt, ihn festzuhalten, aber er blieb nicht. Der feingewebte, dichte Umhang unter meiner Wange wurde hart und kalt und verwandelte sich schließlich in flachen, unnachgiebigen Stein. Ich schloß meine Hand fester um seinen Ring, aber auch dieser löste sich in Luft auf. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern veränderte sich das Licht kaum merklich, und schließlich spürte ich eine leichte Berührung des Sonnenlichts warm auf meiner Haut.
Ich war allein in der Kirche.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, das Gesicht auf dem feuchtkalten Steinboden und – entgegen dem Wunsch eines Mannes, der seit mehr als dreihundert Jahren tot war – in tiefer Trauer. Schließlich zwang ich mich, langsam aufzustehen, wischte mit abwesender Geste eine klebrige Träne von meinem Gesicht und hob die Augen zu den traurig dreinblickenden Heiligen in dem leuchtenden Fenster über mir.
»Julia.« Die Stimme, die von einer im Schatten liegenden Bank an mein Ohr drang, ließ mich zusammenfahren. »Julia«; wiederholte Mrs. Hutherson mit ruhiger Autorität, »es ist Zeit für uns zu gehen.«
Ich wandte mich verwirrt um.
»Um acht Uhr wird die Heilige Kommunion abgehalten«, erklärte sie, »und jetzt ist es fast sieben.«
Natürlich, dachte ich. Sonntagmorgen. Ich kam nicht auf die Idee, mich über Alfreda Huthersons Anwesenheit in der Kirche zu wundern – es schien logisch zu sein, daß sie dort war und wartete. Ich hatte nicht das Bedürfnis, irgend etwas in Frage zu stellen. Die offene Wunde des Schmerzes und der Trauer hatten meinen Geist betäubt. Ausdruckslos nickte ich ihr zu und machte ein paar schwerfällige Schritte entlang des Hauptschiffes auf den Altar zu, wobei ich die abgetretenen Namen zu meinen Füßen las. »Wo ist er?« fragte ich.
»Dort.« Sie zeigte auf die Stelle. »Neben seinem Vater.«
»Da steht kein Name.«
»Nun ja«, sie lächelte verhalten und trat zu mir, »dafür gibt es eine Erklärung. Es war die Pest, verstehst du. Einen Monat nach Richards Tod kam die Pest nach Exbury, und auch der Steinmetz des Dorfes starb an ihr. Es dauerte über ein Jahr, bevor sie einen anderen Steinmetz fanden, und zu diesem Zeitpunkt hatte sich Richards Neffe Arthur schon im Herrenhaus niedergelassen und wollte kein Geld ausgeben, um den Namen einmeißeln zu lassen.«
»Die Pest kam hierher?«
»Oh ja.
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