Mariana: Roman (German Edition)
im Jahr darauf.«
Ich versuchte, mich genau an den Vorfall zu erinnern. Ich war in den Stall hineingegangen und hatte Navarre in seiner Box gesehen. Soviel wußte ich noch. Und dann …
»Jemand hat gepfiffen«, erinnerte ich mich plötzlich. »Draußen. Es klang nach Evan Gilroy.«
»Jedenfalls ist es dir möglich, Episoden aus verschiedenen Zeiten deines Lebens als Mariana Farr zu sehen, wenn du es willst. Versuch es nur, und du wirst sehen. Aber«, warnte sie, »du hast nicht mehr viel Zeit.«
»Was meinen Sie?«
Sie blickte mir in die Augen. »Erinnerst du dich, wie ich dir sagte, daß deine Reise eine Art Kreislauf sei?«
»Ja.« Ich nickte. »Sie sagten, daß ich den Kreis vollenden müsse, bevor ich den Zweck von allem verstehen könne.«
»Richtig. Nun, der Kreis ist beinahe geschlossen. Und bald, vielleicht sogar schon sehr bald, wirst du nicht mehr in der Lage sein, Marianas Leben zu leben.«
Ich starrte sie an. »Sie meinen, ich werde alles vergessen, was geschah?«
»Um Himmels willen, nein.« Sie beeilte sich, mich zu beruhigen. »Nein, diese Erinnerungen gehören zu deinem inneren Wesen, Julia, du wirst sie niemals vergessen. Du wirst sie nur nicht mehr leben können, verstehst du?«
»Nein, das verstehe ich nicht.«
»Es ist zu leicht, weißt du, von der Vergangenheit eingefangen zu werden. Die Vergangenheit kann sehr verführerisch sein. Die Leute reden immer vom Nebel der Zeiten, aber in Wirklichkeit ist es die Gegenwart, die im Nebel liegt und unsicher ist. Die Vergangenheit ist dagegen klar, warm und tröstlich. Deshalb bleiben Menschen oft in ihr stecken.«
Ich mühte mich, diesen Gedanken aufzunehmen, fühlte mich aber sehr unglücklich dabei.
»Es ist besser so«, tröstete sie mich sanft. Wirklich. Du könntest sonst versucht sein, diesen einen Sommer immer wieder zu durchleben, wenn du eigentlich mit dem Leben hier und jetzt weitermachen müßtest.«
»Und wie lange wird es noch dauern«, fragte ich, »bevor sich der Kreis schließt, wie Sie sagen?«
Mrs. Hutherson lächelte. »Nicht mehr lange. Du wirst es wissen, wenn der Augenblick gekommen ist. Bist du fertig mit deinem Frühstück? Ja? Dann ist es Zeit, daß du nach Hause in dein Bett kommst. Du wirst dich besser fühlen, wenn du geschlafen hast, und ich übrigens auch.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Du hast mich ganz schön auf Trab gehalten heute nacht.«
Natürlich, dachte ich ein wenig beschämt. Jemand mußte mir überallhin gefolgt sein, die Türen des Herrenhauses für mich geöffnet und dafür gesorgt haben, daß ich mir nicht weh tat. Jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, das Schloß der Tür zum Innenhof zu ölen, damit der Schlüssel sich drehen ließ.
Ich entschuldigte mich dafür, daß ich ihr so viel Mühe bereitet hatte, aber sie tat die Entschuldigung mit einer Handbewegung ab.
»Ich fand es faszinierend, um die Wahrheit zu sagen«, gestand sie. »Du hast nie laut gesprochen, falls es dich interessiert. Du hast nur dagestanden und geschaut und reagiert. Und im Kavalier-Schlafzimmer warst du das genaue Abbild des Geistes, den ich vor all den Jahren gesehen habe. Es war Richards Rückkehr, nicht wahr, die du gesehen hast und die diese Trauer und diesen Schmerz verursachte?«
Ich nickte. »Er fiel vom Pferd, wissen Sie. Er fiel, und dann …« Ich biß mir auf die Unterlippe, der Schmerz kehrte wieder, und sie beugte sich über den Tisch und legte ihre starke Hand auf meine.
»Es tut mir so leid, meine Liebe. Ich habe schon wieder vergessen, daß du ihn erst heute morgen verloren hast.«
Ich lächelte und suchte die Reste meiner Fassung wie für einen Schutzschild zusammen. »Es ist merkwürdig«, sagte ich, »daß sein Begräbnis nicht im Kirchenregister eingetragen wurde.«
»Gar nicht so merkwürdig, im Grunde.« Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen, praktisch gesonnen wie immer. »Es war eine Zeit der großen Verwirrung, das Pestjahr. Es ist schwer, schriftliche Eintragungen weiterzuführen, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht. Außerdem war es auf diese Weise auch besser für dich.«
»Wieso?«
»Es war besser, glaube ich, daß du nicht im voraus wußtest, was mit Mariana und Richard geschah«, erklärte sie einfühlsam. »Es ist besser, manche Dinge herauszufinden, indem man sie lebt, nicht, indem man sie in einem Buch nachliest. Wärest du denn so begierig gewesen, zurückzugehen, wenn du gewußt hättest, daß Richard jung sterben würde?«
»Vielleicht nicht.« Ich
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