Mariana: Roman (German Edition)
spielen.
Unser Garten war eigentlich recht klein, doch als ich auf den Zaun zulief, schien sich die Begrenzung immer weiter vor mir zurückzuziehen, bis ich auf einmal durch ein wogendes Blumenfeld ging, wo die Sonne warm auf meine Schultern schien und die Luft erfüllt war vom Summen zufriedener Insekten. Wenn ich eine Hand ausstreckte und über die Blumenköpfe strich, konnte ich das süße und plötzliche Ausströmen ihres Duftes wahrnehmen.
Ich war auf einmal sehr weit vom Haus entfernt. Als ich mich umdrehte und zurücksah, war es nur noch ein kleiner Fleck in der Ferne. So schön und verlockend das Blumenfeld auch war, so wußte ich doch, daß meine Mutter sich Sorgen machen würde, wenn ich zu weit weglief. Widerstrebend machte ich mich auf den Rückweg. Der Weg schien diesmal noch länger zu sein, und ich mußte mit großer Mühe den Zaun überklettern, um wieder in den Garten zu gelangen. Als ich schließlich zurück war, schien die Sonne nicht mehr, und die Luft war kühl und feucht. Meine Mutter saß nicht mehr auf dem Rasen.
Ich ging ins Haus hinein, aber auch dort war niemand. Es stand leer und düster da, und die Stille war beunruhigender als jedes unheimliche Geräusch, das ich mir hätte vorstellen können. Verwirrt und verängstigt rannte ich stolpernd die Straße entlang zum Haus einer Freundin und hämmerte verzweifelt gegen die Tür. Die Freundin öffnete, aber sie war kein Kind mehr wie ich – es war eine erwachsene Frau, die dort auf der Türschwelle stand und mitleidsvoll zu mir herunterblickte.
»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Hat es dir denn niemand erzählt? Deine Mutter ist schon vor Jahren gestorben …«
Die Tränen liefen mir noch die Wangen herunter, als der Traum schon zu Ende war. Ich konnte sie schmecken, als ich dort in der Dunkelheit lag, dem Tropfen der Wasserhähne im Bad zuhörte und beobachtete, wie der Schatten der Pappel auf der Bettdecke tanzte, während ich versuchte, mein wie wild gegen die Rippen pochendes Herz zu beruhigen. Als ich wieder normal atmen konnte, knipste ich die Leselampe auf dem Nachttisch an und setzte mich auf, fuhr mir durch mein schweißfeuchtes, verworrenes Haar und legte dann beide Hände über die Augen.
Es war nur ein Traum , sagte ich mir. Du bist kein Kind mehr, du bist fast dreißig Jahre alt, und deine Mutter ist nicht tot. Ich hob meinen Morgenrock vom Fußboden auf, wo ich ihn vor dem Zubettgehen fallen gelassen hatte, schlüpfte hinein und schlang den Gürtel um meine Taille, während ich hinaus in den Flur schlurfte. Ich würde nicht schlafen können, bis ich die bedrückende Erinnerung an diesen Traum abgeschüttelt hatte. In solchen Momenten wünschte ich mir oft, einen Fernseher zu besitzen wie andere Leute, aber ich hatte mein Gerät schon vor Jahren verschenkt. Es war eine zu verlockende Ablenkung von meiner Arbeit gewesen.
Statt dessen gab ich mich jetzt mit einem spätnächtlichen Talkshowprogramm auf meinem Transistorradio und einer beruhigenden Tasse Kakao zufrieden. Als das nicht half, versuchte ich es mit Lesen. Eine volle Stunde später, immer noch unfähig, mein vages Unbehagen und die schleichende, kalte, unbenennbare Angst, die ihren Klammergriff um mein Herz gelegt hatte, abzuwerfen, gab ich schließlich auf, ging zum Telefon und wählte mit unsicherer Hand die Nummer in Neuseeland.
Meine Mutter nahm nach dem achten Läuten ab, ihre Stimme klang abwesend, aber wohlartikuliert. Sekunden später war sie hellwach.
»Julia? Ist alles in Ordnung?«
Ich mußte etwas kleinlaut zugeben, daß es das war, und erklären, daß ich nur anrief, um hallo zu sagen und zu hören, wie es ihnen ging.
»Um vier Uhr morgens?« Meine Mutter rechnete schnell zurück und klang nicht überzeugt.
Ich seufzte. »Also gut, ich hatte einen Alptraum. Ich habe geträumt, daß du tot seist.«
»Oh, Liebling …« Ihre Stimme war wie eine Umarmung durch die Telefonleitung. »Wie schrecklich. Ich bin aber keineswegs tot und habe auch nicht vor, in absehbarer Zukunft zu sterben, also kannst du aufhören, dir Sorgen zu machen.« Ich hörte ein leichtes Rascheln und wußte, daß sie es sich in ihrem Sessel bequem machte und sich Kissen in den Rücken stopfte. »Wie gefällt dir das Leben in deinem Dorf?« fragte sie. »Tommy hat uns erzählt, daß dein Haus wunderbar sei, er habe allerdings so seine Bedenken, was die Sanitäranlagen betrifft …«
Ohne eine Antwort zu erwarten, stürzte sich meine Mutter in ein eher einseitiges Gespräch,
Weitere Kostenlose Bücher