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Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
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beträchtlichen Leibesfülle den Vortritt an der Eßzimmertür zu lassen, was Lionel, diese alte Jungfer in Hosen, zutiefst schockierte. Marys Mutter hatte ihr diese und andere Einzelheiten Jahre später erzählt und sogar die Behauptung aufgestellt, daß Lionel immer, wenn die Geburt eines seiner Kinder bevorstand und Grace in den Wehen lag, vor dem Haus nach dem Klapperstorch Ausschau gehalten hätte. Als Mary elf Jahre war, fand sie ihren Onkel Lionel schon ziemlich langweilig. Später stellte sie fest, daß er sie einfach zu Tode langweilte.
    Wie sein Bruder Guy, war auch er in dem Familien-Unternehmen Shannon’s Restaurant in der Northumberland Avenue tätig. Sein Leben war genau eingeteilt, in lauter Fächer: Büro — Privatleben — Ferien — Geselligkeit. Mit geradezu deutscher Gründlichkeit übte er jeden Sport aus, der sich ihm in Charbury bot, und sprach dort unten nie ein Wort vom Geschäft. Er war seiner Frau blind zugetan und seinen Kindern ein gewissenhafter Vater, aber sein häuslicher Frohsinn — falls er überhaupt welchen besaß — welkte wie ein Blatt im Herbst, sobald er sich dem über den Speisesälen des Restaurants gelegenen Büro am Trafalgar Square näherte. Er hatte einen schmalen Kopf und eine dünne, bleiche Nase, auf der ein Pincenez saß, das von einer silbernen Kette hinter dem Ohr festgehalten wurde. Seine Knochen waren so dünn wie die eines Huhns, und mit sechsunddreißig Jahren sah er schon so vertrocknet aus, als wäre er niemals jung gewesen. Grace, seine Frau, war klein und mollig und eine gute Hausfrau. Sie stopfte viel lieber Strümpfe, als daß sie ein Buch las, und daß sie sich auf Grund ihrer Dummheit in allen Dingen ratsuchend an ihren Mann wenden mußte, beglückte sie offenbar besonders. Sie vergötterte Lionel mit einer fast krankhaften Ergebenheit.
    Margaret hatte diesen etwas unterwürfigen Charakterzug von ihrer Mutter geerbt, mit dem Unterschied, daß er sich bei ihr nicht nur ihrem Vater gegenüber zeigte. Fortwährend stürzte sie sich auf irgendwelche Leute, hängte sich ihnen mit ihren schlaffen Reptilien-Armen an den Hals und schmuste: «Tantchen» oder «Onkelchen, ich möcht dich mal was fragen. Hast du mich gern?» Wenn sie eine Abfuhr erhielt, so schlich sie davon und ging zu Rate mit ihrem Gewissen, das überdimensional zu sein schien. Fand sie keine eigenen Sünden, über die sie nachgrübeln konnte, so grübelte sie über die Sünden anderer nach. Sie würde einmal eine herzensgute Frau werden, das konnte man ihr jetzt schon von weitem ansehen.
    An einem Sonnabendnachmittag saßen alle fünf Kinder im , einer riesigen, alten Ulme im Park, die außer dem dicken Ast, an dem die Schaukel hing, noch eine Unmenge teils bequemer, teils gewagter Sitzmöglichkeiten bot. Margaret mußte immer auf den untersten Ast heraufgezogen werden, obwohl alle anderen, selbst der kleine Michael, allein hinaufklettern konnten. Jeder von ihnen hatte seinen Stammplatz. Denys saß natürlich oben in der Krone, so hoch oben, daß man ihn manchmal schreckerfüllt fluchen hörte: «Verdammt, jetzt wär ich fast runtergefallen», um den anderen, die weiter unten saßen, klarzumachen, wie gefährlich es dort oben sei. Dicht unter ihm, so daß einer seiner Turnschuhe vor ihrer Nase baumelte, saß Mary auf einem sanft geschwungenen Ast, den Rücken an den Stamm gelehnt. Von hier aus sah sie durch die frühsommerlich hellgrünen Blätter über den Park direkt bis zur Farm, die jenseits der Straße lag, und weiter noch über die umgepflügten Felder, über grüne Mulden und versteckte Täler, bis zu dem Schornstein der Zementfabrik und den hier und da sichtbar werdenden Dächern von Yarde. Links unter sich erblickte sie den breiten Rücken von Mouse, dem Pony, das dort weidete.
    Sie war mit ihm am Morgen die ganze Strecke bis Lymchurch geritten; Tom ritt auf Buck und Denys auf dem alten Polopferd Warrior, das, um mit Tom zu sprechen, wie ein D-Zug abbrauste, so daß nicht einmal Denys es immer zügeln konnte. Sie und Denys hatten ein Rennen veranstaltet, und Mouse galoppierte dabei wirklich so schnell wie ein Rennpferd. Der Boden dröhnte unter seinen kleinen Hufen, während es wild dahinstürmte, und seine grauen Schultern — dunkel von Schweiß — bewegten sich kraftvoll unter ihr. Es war herrlich und so aufregend, und als sie die Pferde zum Stehen gebracht hatten, warteten sie mit glänzenden Augen und hochroten Wangen auf den langbeinigen Buck, der in leichtem

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