Mariana
Bett zu stecken, die kleine Treppe hinunter und den mit einem weichen Teppich ausgelegten Korridor entlang zum Zimmer ihrer Großmutter. Sie legte ihr Ohr an die Tür, um zu hören, ob jemand drin sei, denn Großmama sah gern jedes der Kinder allein, aber es war nichts zu hören, nur Großmamas Husten. Mary klopfte an, und auf das freundliche «Herein» machte sie die Tür auf und ging auf das große Bett zu, das unter dem Fenster stand.
Mrs. Shannon konnte seit sechsundzwanzig Jahren nicht mehr gehen. Kurz vor der Geburt ihres letzten Kindes war sie über ihren kleinen Lieblingshund gestolpert und dabei so unglücklich gefallen, daß sie sich das Hüftgelenk brach. Das Kind, Winifred, wurde vorzeitig und mit einem kleinen geistigen Defekt geboren. Später hatte sich dann in dem Hüftgelenk der Mutter eine Knochentuberkulose entwickelt. Für Mary war es ganz selbstverständlich, daß ihre Großmutter im Bett oder im Rollstuhl lebte, oder daß sie in dem Rohrsessel mit der hohen Rückenlehne saß, der im Winter in der Halle, im Sommer bei großer Hitze im Gartenhaus stand. Großmama hat gar keine Beine, dachte Mary und prahlte damit vor ihren Freundinnen in der Schule.
Am Fußende des Bettes lag ein Skyeterrier, ein Nachkomme jenes Hundes, der an dem Unfall seiner Herrin schuld war. Herbert Shannon wollte damals den Hund töten lassen. «Nein, Sukie kann nichts dafür», hatte seine Frau gesagt und das Tier nur noch mehr geliebt.
«Nun, mein Liebling», sagte sie, als Mary sich auf den Stuhl neben das Bett gesetzt hatte, «erzähl mir, was du heute gemacht hast. Ich hab dich beim Tee nicht gesehen, weil Taggie mich nicht hinunterbringen wollte ,! das Scheusal.» Sie zog eine Grimasse. Taggie war Schwester MacTaggart, die für sie sorgte und sie auf ihren kräftigen Armen wie ein Kind herumtrug.
Mary erzählte ihr von dem Ritt, und sie erlebte alles noch einmal in ihrer Begeisterung. Sie erzählte ihrer Großmutter gern von ihren Erlebnissen, und wenn diese dann sagte, «ja, ja, das sehe ich deutlich vor mir», freute sie sich, daß ihr die Schilderung so lebendig gelungen war. Großmama begriff immer sofort — nicht wie die meisten Erwachsenen, die offenbar absichtlich alles falsch verstanden. Manchmal unterbrach sie mit einer treffenden Bemerkung wie und bewies damit, daß sie den Kern der Sache genau erfaßt hatte. Als Mary mit ihrem Bericht von dem Ritt fertig war, hätte sogar Großpapa bestimmt gesagt, , aber Großmama sagte: «Was muß Mouse doch für ein wunderbares Pony sein. Wenn das Wetter morgen schön ist, lasse ich mich von Taggie in den Park hinunterbringen, und dann führst du es mir mal vor.»
Sie teilten sich gegenseitig mit, was jeder von ihnen zum Mittag gegessen hatte, und dann sagte Großmama so ganz nebenbei, während sie irgend etwas von ihrem Bettjäckchen schnipste: «Und dann hast du doch wohl — äh — im Schaukelbaum gesessen, nicht wahr?»
«Ja, wir alle, und Margaret hat sich wieder lieb Kind gemacht, du weißt ja, wie sie ist, und dann kamen die Kinderfrauen vorbei mit Julie, und wir —»; hier brach sie vorsichtshalber ab, gerade noch zur rechten Zeit.
«Schon gut», sagte Großmama, «ich hab euch durch mein Fernrohr gesehen und durch meine Zaubertrompete gehört. Mein Liebling», sagte sie und nahm Marys Hand, «das war doch eigentlich recht häßlich, was ihr da gemacht habt, und das weißt du doch sicher selbst.»
«Na ja, das stimmt schon, Großmama, aber es war doch so furchtbar komisch.» Mary sah sie hoffnungsvoll an, denn Großmama hatte eigentlich Sinn für einen Spaß.
«Wäre es nicht noch viel komischer gewesen, wenn es ein Ulk gewesen wäre, über den alle hätten lachen können — die Kinderfrauen auch? Du weißt doch, was Queen Victoria gesagt hat, als sich jemand bei Hofe, ungebührlich benahm? » ?
«Wir finden das durchaus nicht komisch.»
«Siehst du. Nanny fand das auch nicht komisch. Genau wie Queen Victoria weiß sie nämlich, daß gutes Benehmen zu den wichtigsten Dingen im Leben gehört. Darum war Victoria auch eine so große Dame und wurde von vielen Menschen geliebt — weil sie gütig und taktvoll war.
Und das mußt du auch sein, Mary. Du bist ein so lieber, kleiner Kerl, und ich möchte, daß dich auch alle Leute gern haben... und das werden sie auch.» Sie zog Mary zu sich heran. «So, jetzt einen Kuß, ein Stück Schokolade
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