Mariana
geritten und über einen Baumstamm gesprungen, der war mindestens so hoch...» Er streckte die Hand aus, um die Höhe seines Sprunges anzudeuten, aber so riesige Bäume gab’s in ganz England nicht. «Tom hat gesagt, das hätte ich prima gemacht. Du mußt es morgen auch mal versuchen. Weißt du was?», plötzlich war ihm eine Idee gekommen, «ich will mal sehen, ob du dich traust, von der Mauer zu springen. Wenn du’s tust, können wir meinetwegen vor dem Tee auch noch zu den Ponys gehen», fügte er großmütig hinzu. «Los, komm», und damit zerrte er sie an den Rand der Mauer, «ich will mal sehen, ob du Mut hast, Maria.»
Üblicherweise gelangte man über Steinstufen in den Park, die in gewissen Abständen in die Mauer gehauen waren. Keines der Kinder mit Ausnahme von Denys war jemals von der drei Meter hohen Mauer heruntergesprungen. Er hatte es zum ersten Mal in den letzten Ferien getan, aber auch nur, weil sein Vater ihn dazu aufgefordert hatte. Schon bei dem Gedanken wurde Mary ganz übel und schwindelig. Sie stand auf der Mauerkrone und starrte mit weitaufgerissenen Augen in den Park hinab, ein mit Disteln grün überwucherter, steiniger Abgrund. Aber eine Herausforderung war eine Herausforderung, besonders wenn sie von Denys kam.
Sie wandte sich ihm zu und bat flehentlich: «Spring du zuerst, dann springe ich auch.»
«Na gut», er stellte sich in Positur, krempelte sich die Ärmel auf, wobei diese eindrucksvolle Geste offenbar nur dem Zweck diente, sich Mut zu machen, und sprang elastisch wie eine Katze hinunter. Er landete auf allen vieren und verwünschte eine Distel, die ihn in die Hand gestochen hatte. Mary holte tief Luft. Daß Denys schon unten war, machte ihr den Entschluß nicht leichter. Sie mußte springen, da gab es kein Entrinnen. Sie schloß die Augen, hörte, wie Denys unten sang: «Memme, Memme, feige Memme», und ließ sich einfach ins Leere fallen. Während sie fiel, stieg ihr Inneres nach oben, dann prallte sie mit solcher Wucht unten auf, daß ihr die Fußsohlen brannten, verlor das Gleichgewicht, taumelte und schlug der Länge nach hin. Als sie sich aufrichtete, war sie wie betäubt von dem dumpfen, heftigen Schmerz, den der Fall aufs Gesicht ihr verursacht hatte.
«Hast du dir weh getan?» Denys hockte neben ihr. «Oh, Maria», sagte er entsetzt, und sie sah, daß er ganz weiß wurde, «du blutest ja.» Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und als sie sie wieder herunternahm, sah sie, daß sie ganz blutverschmiert war. «Wo blute ich denn?» fragte sie, «mir tut es nirgends besonders weh.»
«Du hast dir die Stirn aufgeschlagen», sagte Denys, der sie mit schaudernder Faszination betrachtete, «das Loch ist enorm tief. Ganz weiß sieht es innen aus — du, ich glaube, das Loch geht bis zum Knochen.» Mary verspürte zwar Übelkeit, aber gleichzeitig ein angenehmes Prickeln. So eine Wunde, die bis auf den Knochen ging, das war ja ganz schön aufregend. Sie fühlte gar keinen richtigen Schmerz, das ganze Gesicht war von dem Aufprall noch wie betäubt, aber sie war befriedigt, daß sie dafür wenigstens etwas vorweisen konnte. Denys zeigte sich der Situation in geradezu überwältigender Weise gewachsen. Marys Herz barst fast vor Liebe zu ihm, als er — die dunklen Augen besorgt und ernst auf sie gerichtet — einen Streifen von seinem Hemd abriß und ihn ungeschickt um ihren Kopf band. Er sah sie an.
«Das Blut kommt durch», seine Stimme klang ziemlich ängstlich, «wir wollen lieber zurückgehen.» Er stand auf und reckte die Schultern. «Soll ich dich tragen?»
«Nein», sagte Mary zu seiner Erleichterung, «es geht schon.» Er half ihr beim Aufstehen und stieg vor ihr die Stufen in der Mauer hinauf, wobei er sich umdrehte, um ihr eine Hand zu reichen. Dann gingen sie zum Haus hinauf, sie stützte sich auf seinen Arm und schob den Verband, der ihr dauernd über die Augen rutschte, immer wieder hoch. Jetzt begann sie einen ganz bestimmten Schmerz auf der Stirn zu spüren, einen stechenden, kalten Schmerz, so, als ob jemand ein Stück Eis an ihre Stirn hielt.
«Erwachsene oder Kinderfrauen?» fragte Denys, als sie die Auffahrt erreicht hatten und Mary mit den Tränen kämpfte, weil der Schmerz immer stärker wurde.
«Kinderfrauen», sagten sie wie aus einem Munde, weil das das kleinere von den beiden Übeln war, und gingen über die kleine gepflasterte Terrasse ins Kinderzimmer.
Sie saßen alle beim Tee. Nanny wollte gerade den Mund aufmachen und sagen: «Wer nicht
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