Mariana
vernehmen, «dann laß sie um Gottes willen nicht rein.» Er spähte in den Korridor und strich sich das Haar glatt. «Barmherziger Vater», sagte er, als er Wanda erblickte, und verschwand. Mary wußte nicht, was sie tun sollte. Wanda war perplex. «Unerhört», sagte sie, «noch nie in meinem Leben bin ich so beleidigt worden.» Ihr Gesicht verzog sich, und Mary hatte Angst, sie könnte zu weinen anfangen. Zu ihrer großen Erleichterung kam ihre Mutter aus der Küche und meisterte die Situation.
«Es tut mir furchtbar leid, Miß — äh —», sagte sie äußerst liebenswürdig, «aber mein Bruder fühlt sich gar nicht wohl. Er kann leider niemand empfangen.» Wanda, die so überrascht war, daß sie nur schwach protestieren konnte, fand sich zur Tür komplimentiert, wobei sie aussah, als wäre ihr ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen.
«Du kannst rauskommen, du Ratte!» Mrs. Shannon bummerte an die Badezimmertür.
«Ist sie weg?» fragte Onkel Geoffrey, der wie ein aufgescheuchtes Kaninchen durch die Türspalte sah. «Tausend Dank, Lil.»
«Du brauchst mir nicht zu danken», sagte sie, verschränkte die Arme und betrachtete ihn stirnrunzelnd. «Ich hab sie nicht dir zuliebe rausgesetzt. Ich fand, das arme Ding ist bedeutend besser ohne dich dran, das war alles. Wie dem auch sei», sie sah ihn, die Zungenspitze im Mundwinkel, verschmitzt an, «nach dem Ausdruck in ihren Augen zu urteilen, hast du ihr einen Heiratsantrag gemacht. Wahrscheinlich wird sie dich wegen Nichteinhaltung des Eheversprechens verklagen.» Sie schlug die Hände leicht gegeneinander und verschwand wieder in der Küche.
«O Gott», sagte Onkel Geoffrey, «ich gehe wieder ins Bett. Wenn ich bis morgen früh nicht aufgewacht bin, könnt ihr den Leichenwagen bestellen.» Die Schlafzimmertür schlug hinter ihm zu, und Mary blieb allein im Korridor zurück; verwirrt und neugierig zugleich, hatte sie doch das feste Gefühl, daß es zwecklos sei, irgendwelche Fragen zu stellen. Niemand würde ihr erklären, was das Ganze eigentlich zu bedeuten hatte.
In verstieg man sich zwar nicht zu Abschlußfeiern oder Preisverteilungen, aber immerhin fand am Ende des Sommersemesters ein Schulkonzert statt, in dem Mary — in einem geblümten Seidenkleidchen und mit angstvoll gequältem Gesichtsausdruck — Schuberts Militärmarsch spielte, den die Eltern im Auditorium kopfnickend mitsummten, als wollten sie sagen: Mrs. Shannon konnte an der Veranstaltung teilnehmen, da ihre Schule schon früher geschlossen hatte. Sie hatte Mary eine halbe Krone versprochen, wenn sie gut spielte. Da sie kaum geübt hatte, spielte sie sehr schlecht, aber ihre Mutter gab ihr das Geld trotzdem unter dem etwas dürftigen Vorwand, daß Mary sich doch nach Kräften bemüht habe.
Nach dem Konzert wurden die Auszeichnungen für gute Führung verteilt. Mary hatte noch nie eine bekommen, aber diesmal glaubte sie einen berechtigten Anspruch zu haben, hatte sie doch mehrere Male für die Mathematiklehrerin Bleistifte angespitzt und Miß Carson sogar einmal ein Farnkraut mitgebracht.
Sie bekam keine Auszeichnung, was höchst ungerecht war. «Schiebung», flüsterte sie bitter enttäuscht ihrer Mutter zu, als Cecily Barnards Name aufgerufen wurde. «Die ist doch viel zu blöd, um frech zu sein.»
Anschließend erhielten die Eltern die Semester-Zeugnisse überreicht. Sie wurden mit Tee und länglichen, rosa Butterkuchenstückchen gestärkt, und damit war die Schule für zwei volle Monate geschlossen. Auf dem Nachhauseweg rannte Mary vor ihrer Mutter her, schleuderte ihren Turnbeutel gegen Laternen und Briefkästen und rannte wieder zurück. Mrs. Shannon kam langsam nach, und während sie Marys Zeugnis las, spielte ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel.
«Zeig mal, was steht denn drin? Bitte laß mich mal sehen», bestürmte Mary ihre Mutter, hopste um sie herum und zerrte an ihrem Arm.
«Warte, bis ich fertig bin. Dann kriegst du es zu sehen. Kannst du nicht einen Augenblick warten? Es sieht sowieso nicht sehr rosig aus, mein Schatz.»
«Ach, mach dir nichts draus!» Mary schwang den Turnbeutel sanft gegen die Kehrseite ihrer Mutter und jagte dann wieder davon, außer Rand und Band vor Aufregung. Charbury, Charbury, bald war es soweit. Die Schule lag bereits meilenweit hinter ihr, und als ihre Mutter ihr beim Tee das Zeugnis über den Tisch schob, hatte sie das Interesse daran schon halb
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