Mariana
nicht doch lieber mit ihr zusammen hineingehen?»
«Ach nein», Wanda zog einen Flunsch. Sie war ebenso erpicht darauf wegzukommen, wie Mary erpicht darauf war, sie loszuwerden.
«Also, hör mal zu, Kleines», sagte Onkel Geoffrey, «wenn du irgend etwas siehst, was du eigentlich noch nicht sehen darfst, dann kriech unter den Sitz. Wird bestimmt alles klappen?» Er stand noch immer unschlüssig auf dem Trottoir, Wanda rankte sich wie eine Schlingpflanze um ihn herum. «Gib dem Portier ein Trinkgeld, damit er dir nachher ein Taxi besorgt, und sei um Gottes willen vor deiner Mütter zu Hause. Sie hat gesagt, sie kommt spät. Hast du einen Hausschlüssel?»
«Ja, ja, ich hab alles — , auf Wiedersehen!» Sie warf ihm, bevor sie sich zum Gehen wandte, einen flüchtigen Kuß zu, worauf Wanda ihr einen Kuß gab, der nach den Lavendelbonbons roch, die Mrs. Duckett immer zur Verbesserung ihres Atems lutschte. Endlich war sie im Foyer und stolzierte würdevoll zur Kasse.
Leatrice Joy war bereits in der Mitte ihres Verführungsaktes angelangt, als Mary sich an den Knien ärgerlicher Besucher vorbei auf ihren Platz drängelte. Sie machte gar nicht erst den Versuch, dem Film zu folgen oder ihn zu verstehen. Es war sowieso nur ein sentimentaler Schmachtfetzen. Etliche Figuren, die anscheinend heftig aufeinander einredeten, agierten mit wilden Gesten, wobei gleichbleibend starke Regenfälle auf sie herabprasselten. Mary lehnte sich in ihren Sessel zurück und fühlte sich sehr erwachsen.
Endlich kam Tom Mix, und Mary hockte voller Spannung auf der Kante ihres hochgeklappten Sitzes. Obwohl sie die Gegenwart der anderen Leute in dem geheimnisvollen Dunkel um sie herum kaum wahrnahm, erhöhte das erregende Bewußtsein, ganz allein unter ihnen zu sein, die Spannung, die von der Leinwand ausging. Niemand saß neben ihr, der sie durch das Vorlesen der Fußtitel auf die Erde zurückholte oder ihr mit durchdringendem Flüstern etwas erklärte, was sie ohnehin verstand. Niemand war da, zu dem sie pflichtschuldig sagen mußte: «Ja, es gefällt mir sehr gut. Dir auch?» Sie war eins mit dem verwegenen, wundervollen Cowboy. Wenn er auf seinem weißen Pferd, Tony, dahinritt, so ritt sie an seiner Seite auf Mouse. Gemeinsam beugten sie sich tief herab, um den geräuschlosen Schüssen der Verfolger zu entgehen, und gemeinsam jagten sie in wildem Galopp zum Prärie-Saloon, sprangen aus dem Sattel und begaben sich mit wiegenden Schritten sporenklirrend mitten unter die Bösewichte. Der Regen, der sich über Leatrice Joy ergossen hatte, fiel auch auf Arizona herab, aber Mary bemerkte das überhaupt nicht.
Nach der Vorstellung, als die Nationalhymne erklang, stand sie wie in Trance da, dann seufzte sie tief und ging hinaus in die Nacht. Noch nie war sie so spät abends unterwegs gewesen. Sie stand auf dem Trottoir und beobachtete die Wagen und Taxis, die Leute, die vergnügt und lärmend vorbeigingen, manche Arm in Arm, und ein paar Männer, die aus rauhen Kehlen ein albernes Lied grölten. Es mußte also doch Spaß machen, erwachsen zu sein. Sie fühlte sich überhaupt nicht müde. Wenn sie jetzt schon groß wäre, würde sie wahrscheinlich noch tanzen gehen, in eine Bar. Dieser Gedanke erweckte in ihr faszinierende Visionen toller Schwelgereien. Sie gähnte und trat eilig einen Schritt zurück, als ein großer, schwerer Mann, der etwas unsicher auf den Beinen schien, mit ihr zusammenprallte. «Verdammt noch mal, paß doch auf, wo du langgehst», schimpfte er. Sie faßte plötzlich einen Entschluß: Sie würde den Augenblick ihrer Rückkehr nach Haus noch etwas hinausschieben und gleichzeitig Geld sparen, indem sie die Untergrundbahn benutzte. Ihre Mutter sprach dauernd vom Sparen, und wie würde sich Onkel Geoffrey freuen, wenn er von seinen zehn Schillingen noch siebeneinhalb zurückbekäme.
Sie kam sich sehr tugendhaft vor, als sie auf der Rolltreppe stand und ins Erdinnere hinabfuhr. Wie sie fahren und wo sie umsteigen mußte, wußte sie, denn sie hatte dieselbe Strecke nach Einkäufen oder irgendwelchen Einladungen schon oft zurückgelegt. Einige Leute betrachteten sie, andere lächelten, und ein oder zwei von ihnen machten eine mißbilligende Bemerkung zu ihren Begleitern, aber sie fühlte sich vollkommen sicher und unbefangen. Nicht nur, daß sie ganz ruhig war, nein, sie fühlte sich fast von Würde durchdrungen. Das war immer nur der Fall, wenn sie allein war. Zusammen mit anderen war sie nur ein bedeutungsloses Anhängsel der
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