Mariana
wie eine Ausgestoßene umher, vor lauter Einsamkeit bekam sie Kopfschmerzen. Bisher hatte ihr das Alleinsein nie etwas ausgemacht, oft war es ihr sogar sehr willkommen gewesen, aber hier war es beschämend. Wer zur Herde gehörte, fühlte sich glücklich, wer nicht, todunglücklich, und Mary sah keine Chance, je in die Herde aufgenommen zu werden. Nicht, daß die anderen ihr besonders attraktiv erschienen, aber gerade weil sie sie wenig anziehend fand, erbitterte sie das Abgelehntwerden doppelt. Ein Mädchen war da, das ihr überall begegnete, es war groß, hatte immer ein strahlendes Lächeln und schon einen richtigen Busen, der mit Auszeichnungen bedeckt war. Man sah sie nur im Eilschritt, als ob sie ständig alle Hände voll zu tun habe. Jedesmal, wenn sie vorbeiflitzte, lief Mary, die nie etwas zu tun hatte, rot an und starrte ihr wie gebannt und voller Ehrfurcht nach.
Während der ganzen Zeit in St. Martin’s, auch als sie schon längst dazugehörte und selbst eine der Göttinnen war, die Neuankömmlinge zu Stein werden ließen, gab es keinen Augenblick, in dem Mary sich hätte sagen können: Sie wurde nie das Gefühl los, daß die Schule den anderen gehörte und sie lediglich geduldet war.
In ihrer Klasse waren noch drei andere Neue, aber zwei von ihnen waren schon miteinander befreundet, hingen wie die Kletten zusammen und betrachteten die übrigen mit mißtrauischen Blicken. Die dritte hieß Angela Shaw und war verrückt. Sie war vollkommen überspannt und machte so abwegige Bemerkungen, daß alle Leute sie ganz verwirrt anstarrten und sagten: «Hör mal, Shaw, bist du krank, oder was ist los mit dir?» Nach einiger Zeit stellte sich heraus, daß sie völlig normal war, und schließlich wurde sie Marys beste Freundin.
«Als ich herkam», erklärte sie Mary, «nahm niemand Notiz von mir, und da dachte ich mir, ich werd schon dafür sorgen, daß sie mich zur Kenntnis nehmen, ich spiel einfach verrückt. Das hab ich getan und habe erreicht, was ich wollte.»
Dies Verhalten erfüllte Mary mit Bewunderung. Sie selbst versuchte in ihrem ersten Semester in St. Martin’s, möglichst so zu sein wie alle anderen und ihr Pensum zu schaffen, demgegenüber die Anforderungen in ein Kinderspiel waren. Stundenlang saß sie nach dem Tee über ihren Aufgaben, und mit ihren zerrauften Haaren, die, aus der Schleife gerutscht, über die Schultern gefallen waren, mit den Tintenflecken an den Fingern und auf der Nase, bot sie einen bemitleidenswerten Anblick. Ihre Mutter saß mit gerunzelter Stirn neben ihr und versuchte, sich an ihre eigene Schulzeit zu erinnern. Onkel Geoffrey stand hinter Marys Stuhl, sein Atem kitzelte sie am Hals, er hatte keinen blassen Schimmer und riet munter drauflos. Alle drei kämpften verbissen um die Lösung einer Mathematik-Aufgabe.
«Wenn ein Tank mit drei Hähnen in 97 ¾ Stunden gefüllt wird», begann Onkel Geoffrey, der aussah wie Archimedes, sinnend in der Badewanne liegend, «und der Tank hat ein Volumen von 97 ⅞ mal 14 mal 131 ¼ m 3 », fuhr Mary fort und kaute düster an ihrem Bleistift —
«Was steht denn hier?» unterbrach sie Mrs. Shannon, «hat das nicht was mit dem Wasserdruck zu tun?»
«Nein», sagte Mary gereizt, «du bist ja schon bei der nächsten Aufgabe. O Gott, das krieg ich nie raus, und Miss Whitworth ist so gemein. Sie sagt, ich könnte, wenn ich nur wollte. Die sollte mich hier mal sitzen sehen —»
«Nimm mal x gleich Wasserinhalt», versuchte Mrs. Shannon auf gut Glück. «Ach nein, das geht ja nicht. Es ist ja nach Stunden gefragt. Was in aller Welt meinen die bloß damit?»
«Wenn ein Tank...», sagte Onkel Geoffrey, dessen Taktik es war, im Zweifelsfall immer wieder von vorn anzufangen.
«Mami», sagte Mary, «wenn ich mit der Schule fertig bin, wird dieses Zeug mir dann wirklich irgend etwas nützen? Ich möcht bloß wissen, wozu ich das alles lernen muß.»
«Liebling, wenn du erwachsen bist und einen Beruf haben willst —»
«Aber ich will gar keinen. Ich will heiraten und sechsundzwanzig Kinder haben, und die kriegen nach dem Alphabet ihre Namen. Arthur, Barbara, Chloe, Egbert, Felicitas —»
«Hör schon auf», sagte ihre Mutter, «den Rest kann ich mir denken. Aber selbst wenn du keinen Beruf haben solltest, mußt du eine gute Schulbildung haben, damit du dich anderen Menschen gegenüber behaupten und dich mit ihnen unterhalten kannst.»
«Du kannst
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