Mathematik doch auch nicht und scheinst dich trotzdem sehr gut zu behaupten.»
Onkel Geoffrey prustete los, und Mrs. Shannon sagte: «Mach lieber deine Schularbeiten. Was du manchmal für Ideen hast, dafür bist du noch viel zu jung. Also: gleich der Menge der Flüssigkeit —»
«Wenn ein Tank...», nahm Onkel Geoffrey seine Überlegungen wieder auf.
In St. Martin’s gab es außer dem eigentlichen Lehrstoff noch sehr viel anderes zu lernen. Man mußte alle möglichen Finessen beherrschen, zum Beispiel, daß man seine Mitschülerinnen mit dem Nachnamen anzureden hatte, und daß das Essen
hieß. Bei ihrem ersten Lacrosse-Spiel bekam Mary von einer Riesin eins mit dem Schläger auf den Kopf, und beim Netzball fiel sie auf die Nase. Turnen wurde Gymnastik genannt und nicht genug, daß sie ihr Haar in Zöpfe flechten und sich in blauen Satin-Turnhosen mit Gummizug in der Taille und an den Knien zur Schau zu stellen hatte, mußte sie mit einer Hand an einem Querbalken halb unter der Decke hängen, oder an dem Ende eines hin- und herpendelnden Seils baumeln, und bei den verzweifelten Versuchen, daran hochzuklettern, schürfte sie sich die Haut an Händen und Knien ab.
Mary wußte noch nicht, daß der erste Mensch, der einen auf einer Kreuzfahrt anspricht, todsicher auch der langweiligste an Bord ist, und so ahnte sie nichts Böses, als ein Mädchen mit pickligem Teint und struppigen Haaren, die als dicker Pferdeschwanz ihren mageren Rücken herabhingen, sich auf dem Schulhof an sie heranmachte.
Fast zwei Monate brauchte sie, um Muriel Hopkins mit ihrer, wie es sich erwies, überaus lästigen Zuneigung wieder loszuwerden.
Wie Mary später durch Vergleiche mit Angela Shaw feststellte, eröffnete Muriel das Spiel immer mit dem gleichen Schachzug.
Mary schlenderte allein in der Pause über den Schulhof, als sich plötzlich aus einer schreienden, ballspielenden Gruppe der großen Herde Muriel herausschälte, sich Marys Schritt anpaßte und sagte: «Du heißt doch Mary Shannon, nicht wahr?» Sie gehörte zu denen, die bei einer Unterhaltung fast in den anderen hineinkriechen, und während sie zusammen weitergingen, sah sie Mary von der Seite an und fragte: «Du bist doch eine von den Neuen, nicht wahr?»
«Ja», antwortete Mary, dankbar, daß überhaupt jemand mit ihr sprach. «Wo wohnst du denn?»
«In der Nähe von Olympia. In einem Mietshaus.»
«Ich wohne in Sheen. Mein Vater ist dort Arzt.»
Mary dachte, ein Jammer, daß er dann nicht was gegen den üblen Mundgeruch seiner Tochter unternimmt, da fuhr Muriel fort: «Was ist denn dein Vater?»
«Der ist tot.»
«Ach, das ist aber traurig, nicht wahr?» Muriel hatte die Angewohnheit, jeden Satz mit einer Frage zu beenden, so, als erwarte sie von dem anderen unbedingt eine Antwort. Nachdem die Angaben zur Person ausgetauscht waren, von Marys Seite aus zurückhaltend, von Muriel ganz spontan, kam diese plötzlich mit ihrem Gesicht ganz nah an Marys heran und fragte: «Willst du meine beste Freundin sein?»
«Hm —», das Angebot überrumpelte Mary, aber es bedeutete für sie eine Art Erlösung aus der Einsamkeit und der peinlichen Situation, wenn die Lehrerin rief: «Zu zweien antreten», sie antwortete zögernd: «Ja, wenn du willst.»
Muriel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und ging mit ihrem Gesicht Gott sei Dank etwas zurück. «Wir wollen versuchen, unsere Plätze zu wechseln, damit wir in der Klasse nebeneinandersitzen können, nicht wahr?» sagte sie ganz glücklich.
Muriel war es auch, die im Beisein von etlichen anderen zu Mary sagte: «Du findest Avril Goss doch auch einfach himmlisch, nicht wahr?» Obwohl Mary keine Ahnung hatte, wer Avril Goss überhaupt war, erwartete man ganz offensichtlich von ihr ein begeistertes: «Ja, natürlich!», und so kam Mary zu ihrem ersten und einzigen Schwarm.
Avril Goss, so stellte sich heraus, war das Mädchen, das Mary an ihrem ersten Tag vollkommen verwirrt hatte. Nachdem Mary sich nun einmal zu dieser stürmischen Leidenschaft bekannt hatte, gab es kein Zurück mehr, und obwohl ihr die Spielregeln völlig neu waren, erkannte sie allmählich, welche Gefühle von ihr erwartet wurden. Mitgerissen von der Macht der Suggestion und dem fanatischen Beispiel von Muriel und der halben vierten Klasse gelang es ihr sehr bald, jedesmal, wenn Avril vorbeikam, fast ohnmächtig zu werden. Als dann die Angebetete, die Spielführerin der Lacrosse-Mannschaft war, von der hundsgemeinen Torhüterin von
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