Mariana
mißbilligenden Laut gegen alle Vorschriften verstieß, indem er sagte: «O Gott, nein, nein — die Nächste bitte.»
Als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden, stellte sich heraus, daß Angela mit Glanz bestanden hatte und Mary durchgefallen war. Angela ging im Herbst in die Schweiz und vielleicht hätte Mary mitgehen dürfen, aber nun mußte sie in St. Martin’s bleiben und die Prüfung im nächsten Frühjahr wiederholen. Niemand konnte ihr so recht erklären, weshalb das eigentlich so wichtig war. Ihre Mutter und ihr Großvater hatten es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, und sie konnte noch so viel mit den Füßen gegen die Möbel treten, die beiden ließen nicht locker. Der einzige Silberstreifen am Horizont war, daß sie Denys in dem Spiel Eton gegen Harrow bei Lord’s spielen sehen würde. Er war der Captain. Konnte jemand größeren Ruhm auf dieser Welt erlangen? Tante Marvis würde sie mitnehmen, und Mrs. Shannon ließ in ihrem Geschäft ein gelbes Musselin-Kleid mit dazu passendem Hut für sie anfertigen.
«Aber Mami, ich muß — ich muß mir unbedingt die Haare abschneiden lassen. Ich hab versucht, sie hochzustecken, aber das hält nicht. Ich sehe aus wie Tante Winifred, und dauernd fallen mir die Haarnadeln vom Kopf. Ich kann es aber auch nicht mehr den Rücken runterhängen lassen. Dann sehe ich doch nicht erwachsen aus.» Denys würde seinen Freunden bestimmt nicht gern ein Schulmädchen präsentieren.
«Mary, du hast mir versprochen, daß du damit wartest, bis du mit der Schule fertig bist. Es kommt nicht oft vor, daß ich dir etwas verbiete, aber dieses Mal tue ich’s. Deine schönen Haare —.» Sie nahm Marys Haar hoch und ließ es wieder fallen. Mary machte sich unwillig los. «Nicht doch, meine Frisur», sagte sie unwirsch und verschwand, um über ihren Plänen zu brüten.
Als sie sich für einen bestimmten Laden entschlossen hatte, ging sie fünf Minuten davor auf und ab, bevor sie sich hineinwagte.
«Ich möchte bitte meine Haare abschneiden lassen», sagte sie fast flüsternd zu dem Mädchen, das hinter dem Ladentisch saß und sich ihre krallenartigen Nägel, die Mary einen Schauder über den Rücken jagten, manikürte.
«Sind Sie angemeldet?» fragte das Mädchen und feilte sich weiter die Nägel.
«Äh — nein.»
«Hm», sie überflog das Buch mit den Eintragungen, wobei ihre Nägel über das Papier kratzten. «Mr. Pi-ä-re ist in einer halben Stunde frei», mußte sie dann zugeben. Mary ging und trank noch eine Tasse Tee und aß ein paar harte Plätzchen in einer Teestube in der Highstreet. Das Warten war zermürbend. Je länger sie überlegte, desto mehr genoß sie es, das Gewicht ihrer Haare zu spüren, die sich so weich in ihren Nacken schmiegten. Und wie angenehm war es, sie abends zu bürsten. Die Frauen um sie herum, denen ihre Einkäufe offenbar Appetit gemacht hatten, stärkten sich mit Tee und Schinkenbroten oder Schlagsahne und allerlei merkwürdigen Dingen wie Eiermayonnaise und gebackener Scholle. Fast alle hatten sie kurzes Haar. Mary hätte gern gewußt, ob die auch solche Qualen ausgestanden hatten, bevor sie es sich abschneiden ließen, oder ob ihnen ihre Ehemänner eines schönen Tages lachend einen Kochtopf über den Kopf gestülpt und die Haare mit einer Gartenschere ganz unbekümmert gestutzt hatten, genauso wie sie eine Hecke beschnitten. Dann dachte sie an Denys, stand auf, schob zwei Pence unter den Teller, bezahlte ihre Rechnung und ging entschlossen zu dem Friseursalon zurück.
Als die Haare unter der geschickt geführten Schere von Mr. Pi-ä-re — der weit eher mit einem Cockney- als mit einem französischen Akzent sprach, in großen Büscheln zu Boden fielen, wurde das blasse Gesichtchen, das Mary aus dem Spiegel anstarrte, immer ängstlicher. Sie sah so nackt, ja, direkt kahl aus.
«Haben Sie es nicht etwas zu kurz geschnitten?» erkundigte sie sich zaghaft und befühlte voller Entsetzen ihren bloßen, stacheligen Nacken.
«Durchaus nicht, das ist ein bildschöner Schnitt», sagte Mr. Pi-ä-re und bürstete kurz ihre Schultern ab. «Was wollen Sie mit den abgeschnittenen Haaren machen?» Er stieß mit dem Fuß in den Wust von Haaren.
«Ein Sofa ausstopfen?» Als er fort war, hob Mary die lockigste Strähne, die sie entdecken konnte, auf und tat sie in ihre Tasche. Vielleicht würde Denys sie gern haben wollen. Er hatte doch gesagt: «Wie schön dein Haar duftet!»
Als sie den Hut aufgesetzt hatte, fand sie, daß ihr Gesicht wie ein Ei aussah,
Weitere Kostenlose Bücher