Mariana
Kleid. Sie trennte die alten auf und machte ein neues Gewand daraus, das sie mit seltsamen Verzierungen versah. Es hieß sogar, daß sie Hüte zertrennt und den Rand des einen an den Kopf des anderen genäht habe und umgekehrt.
Daß das Essen nicht üppig war, machte Mary nichts aus. Sie achtete noch immer ängstlich auf ihre Figur, und außerdem gab es auf dem Weg zur Modeschule eine unwiderstehliche Konditorei, durch deren mit einem Glockenspiel versehene Tür sie sich fast jedes Mal in das heiße und süße Innere des Ladens schob, in dem man sich vorkam wie die Marmelade im Pfannkuchen.
Mme. Robeau hatte außer Lucienne noch zwei Töchter. Jeanne, lieb und sanft, arbeitete in einem Kindergarten und war befreundet mit einem jungen Mann namens Albert, der wie ein rosa Marzipanschweinchen aussah und der sie in ferner Zukunft einmal heiraten würde, «quand j’aurai succés avec mes affaires». Didi, die Jüngste, war eher vulgär, trug möglichst ausgearbeitete Büstenhalter und Lackschuhe mit Absätzen so hoch wie Stelzen. Sie brachte Mary eine Menge französischer Ausdrücke bei, für die diese noch nicht einmal die entsprechenden englischen Wörter kannte. Mary hatte, bevor sie nach Paris kam, einen Kursus für Französisch genommen, und obwohl die Robeaus leidlich Englisch sprachen, zog sie es vor, ihr Französisch zu üben; und mit der Zeit wurde es leichter für sie zu verstehen, was in der Modeschule vor sich ging.
Die Arbeit dort gefiel ihr sehr, aber sie stellte mit Erstaunen fest, wieviel Zeit es in Anspruch nahm, ein Kleid im echten zu schaffen. Zunächst wurde es unter den kleinen schwarzen Augen von M. Flambert entworfen, der den Zeichenunterricht gab. Er war fett, hatte einen Bauch, und wenn er seinen breiten Mund auf- und zumachte, sah er wie eine Kröte aus. Er hatte die Angewohnheit, seine Schülerinnen in den Hals zu zwicken, wenn er sich zur Begutachtung ihrer Arbeiten über sie beugte. Erst wenn die Zeichnung ein wirkliches Kunstwerk war, erhielt man die Erlaubnis, ein Papiermodell davon anzufertigen. Dies war ein komplizierter Vorgang, der mehr Wissen an Geometrie verlangte als Mary, noch dazu auf Französisch, besaß. Anschließend wurde das Papiermodell auf Leinwand übertragen, zusammengenäht und mit Hilfe von Mme. Flambert anprobiert, die — wie eine Concierge in ihrer Portierloge — in einem winzigen, muffigen Büro saß, dessen Fußboden mit Nadeln und Knöpfen übersät war. Schließlich und endlich durfte man unter der Oberaufsicht der stets aufgeregt herumflatternden Mlle. Sylvie den Stoff zuschneiden, den man zum halben Preis im Kaufhaus Lafayette erstanden hatte, und ihn in dem Raum nähen, in dem sich das Surren der Nähmaschinen wie das Rollen einer Schar Kanarienvögel anhörte.
Mary war glücklich. Die Arbeit in der Schule machte ihr Spaß, ganz besonders das Zeichnen, und sie fand, daß sie ihre Sache recht gut machte. Die anderen Mädchen waren nett, die Robeaus waren erträglich, und von Paris war sie hingerissen. Sie hatte noch nichts von dem, was Großpapa ihr zur Besichtigung empfohlen hatte, gesehen, aber sie fuhr mit Jeanne auf den Eiffelturm, wobei sie im Fahrstuhl von einem Matrosen gekniffen wurde, und Didi nahm sie manchmal in drittklassige Nachtlokale mit, zu ihren lustigen, ebenfalls etwas vulgären Freunden. Am liebsten saß Mary in den großen Cafés auf den Champs-Élysées oder auf den Boulevards, trank abwechselnd Kaffee oder Dubonnet Cassis und beobachtete stundenlang die Leute. Madame wies sie immer wieder darauf hin, daß es nicht comme il faut sei, allein in einem Café zu sitzen.
«Meine Töchter», sagte sie, «würden so etwas nie tun.» Sie ahnte nicht, in welche Lokale Didi manchmal abends ging, und da sie taub war, hörte sie auch nicht, um welche Zeit sie nach Hause kam.
Mary sagte immer nur: «Ach, das macht nichts. In London geht man überall allein hin. Ich bin gern allein. Und wenn mich ein Mann anspricht, dann sage ich, ich ginge zu einer Verabredung mit meinem Verlobten und der sei Boxer. Das verfehlt seine Wirkung nie.»
Am späten Nachmittag kam sie aus der Schule, und anstatt rechts hinunter am Ufer entlang nach Passy zu gehen, ging sie über die Place d’Jéna und wanderte dann längs der Seine zur Place de la Concorde. Dort angelangt, brauchte sie sich nur noch zu entscheiden, ob sie zum Boulevard des Italiens weitergehen oder in die Champs-Élysées einbiegen solle.
Nachdem sie sich ein Café ausgesucht hatte,
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