Marias Testament
ertönten, musste ich mir überlegen, was ich tun sollte. Ich beschloss, vorerst bei ihm zu bleiben und eine weitere Gelegenheit abzupassen – vielleicht würde nach Einbruch der Dunkelheit oder am frühen Morgen ein Moment kommen, wo er allein und empfänglich für Warnungen sein würde. Und als ich ihn dann noch einmal ansah, wurde mir bewusst, wie dumm und albern und jämmerlich und falsch informiert ich erscheinen würde, wenn ich ihn warnte, als ob ich mehr als er wüsste. Ich wünschte in dem Moment, Markus wäre nicht verschwunden, aber als ich einen Blick zur Eingangstür warf, sah ich, warum er gegangen war – der Mann, der Würger, stand dort, aber jetzt hatte er zwei, drei Männer bei sich, Männer, die kräftiger aussahen als er, und er deutete auf einzelne Menschen in der Menge. In dieser Sekunde trafen sich wieder unsere Blicke, und ich fürchtete mich noch mehr als zuvor, als ich die Worte über den Sohn Gottes gehört hatte: Ich begriff, dass ich nicht etwa die Gelegenheit verpasst hatte, meinen Sohn von hier fortzuführen – ich begriff, dass eine solche Gelegenheit nie bestanden hatte und dass wir alle verloren waren.
Ich aß nicht viel, und ich erinnere mich nicht, was es überhaupt gab. Obwohl mein Sohn und ich mehr als zwei Stunden lang nebeneinandersaßen, wechselten wir kein Wort. Im Nachhinein erscheint es seltsam, aber damals hatte unser Schweigen nichts Merkwürdiges. So mächtig war die fieberhafte Atmosphäre und die wachsende Hysterie, in die sich von draußen Geschrei mischte, dass Worte zwischen zwei Menschen wie Brotkrumen auf dem Fußboden gewesen wären. Ebenso wie Lazarus vom Glanz des Todes umgeben war, einem Gewand fast, das jede Facette seines Seins verhüllte und das niemand durchdringen konnte, so vermittelte mein Sohn eine Ahnung von der Verworrenheit des Lebens, dem leuchtenden Himmel an einem windigen Tag oder den Bäumen, wenn sie mit reifem Obst beladen waren, eine Ahnung von freier Energie, von Freigebigkeit. Er war unendlich weit entfernt vom Kind, an das ich mich erinnerte, oder dem Jungen, der wohl in der Frühe am glücklichsten war, wenn ich zu ihm kam und zu ihm sprach, während der Tag anbrach. Er war schön damals und zart und überschäumend vor Bedürfnissen. Jetzt hatte er nichts Zartes an sich, er war zur Schau gestellte Männlichkeit, selbstsicher und strahlend – ja, strahlend, so wie das Licht strahlt, weswegen es nichts gab, worüber wir in jenen Stunden hätten sprechen können. Es wäre so gewesen, als spräche man zu den Sternen oder dem vollen Mond.
Irgendwann bemerkte ich, dass mehr Menschen Zutritt zum Fest erlangt hatten und dass die allgemeine Aufmerksamkeit nicht auf den Tisch mit Braut und Bräutigam, sondern auf unseren Tisch gerichtet zu sein schien. Ich bemerkte, wie Martha und Maria Lazarus hinausführten, ihn unterhakten, ihn beinahe festhielten, und ich bemerkte, dass der Würger noch immer dastand, hütete mich jetzt aber, seinen Blick zu kreuzen. Und dann fing jemand an zu brüllen, der Wein sei ausgegangen, und ein paar Menschen näherten sich unserem Tisch; es waren die neu Hinzugekommenen, und sie hatten eine überbordende Begeisterung an sich, einen Ausdruck im Gesicht, der vertrauensvoll und flehentlich war, und ihre Stimmen hatten einen leicht hysterischen Unterton. Mehrere von ihnen begannen zu schreien, es sei kein Wein mehr da, und manche richteten jetzt ihre Aufmerksamkeit auf mich, als könnte ich etwas daran ändern. Ich starrte zurück, bis sie wegsahen, und als sie immer lauter brüllten, tat ich so, als ob ich sie gar nicht hörte. Ich hätte wohl ein Schlückchen Wein getrunken, aber mir war gleichgültig, ob es noch welchen gab oder nicht. Ja, ich fragte mich, ob einige der Männer, die vor unserem Tisch standen, nicht vielleicht schon genug Wein getrunken hatten. Doch mein Sohn stand auf und sprach zu den Umstehenden und verlangte, dass man ihm sechs Steinkrüge voll Wasser brächte. Seltsam war, wie schnell diese Gefäße hereingetragen wurden. Ich weiß nicht, ob jedes von ihnen Wasser enthielt oder Wein, das erste jedenfalls enthielt Wasser, aber bei dem ganzen Geschrei und Durcheinander wusste niemand, was eigentlich passierte, bis sie plötzlich anfingen zu schreien, er habe das Wasser in Wein verwandelt. Sie baten den Bräutigam und den Brautvater, den Wein zu kosten, während einer von ihnen anfing zu erklären, es sei doch seltsam und ungewöhnlich, dass der Gastgeber den guten Wein bis zuletzt
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