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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Moment lang hielt ich seinen Blick fest und hätte fast gelächelt, dann wandte ich mich aber ab und betrachtete eine Zeitlang nur Lazarus’ Gestalt.
    Und Lazarus, das war mir jetzt klar, war im Sterben. Wenn er ins Leben zurückgekehrt war, dann nur, um endgültig Abschied zu nehmen. Er erkannte keinen von uns, schien gerade eben imstande zu sein, das Glas Wasser an die Lippen zu führen, wenn seine Schwestern ihm Stückchen von eingeweichtem Brot reichten. Seine Wurzeln schienen sich nach unten ausgebreitet zu haben, und er sah seine Schwestern so an, wie man irgendjemanden auf dem Markt oder in einer Menschenmenge ansehen würde. Er hatte etwas äußerst Einsames, und wenn er tatsächlich vier Tage lang tot gewesen und dann wiederauferstanden war, besaß er ein Wissen, das ihn zermürbt zu haben schien, als habe er etwas gekostet oder etwas gesehen oder gehört, was ihn mit dem reinsten Schmerz erfüllte, ihn auf eine grausige, unaussprechliche Weise unvorstellbar verängstigt hatte. Es war ein Wissen, das er nicht teilen konnte, vielleicht weil es keine Worte dafür gab. Wie könnte es auch Worte dafür geben? Als ich ihn beobachtete, wusste ich, dass, welches Wissen auch immer in seinen Besitz gelangt war, was immer er gesehen oder gehört hatte, er es in den Tiefen seiner Seele mit sich trug, so wie der Körper seine eigene dunkle Fracht von Blut und Sehnen in sich trägt.
    Und dann kam die Horde, und das einzige Mal, da ich etwas Ähnliches gesehen hatte, war in dem Jahr als Brotknappheit herrschte und manchmal eine Lieferung kam, aber es nie genug war, und man sich durch die Menge drängen und die Menge selbst sich wie eine einzige undurchdringliche Masse vorwärtswälzen musste. Ich wusste schon, dass die Menschen, die ich auf der Straße gesehen hatte, nicht wegen der Hochzeit gekommen waren. Ich wusste, weswegen diese Leute gekommen waren, und als mein Sohn erschien, machte er mir mehr Angst als alles, was Markus zu mir gesagt hatte.
    Er trug kostbare Kleider und bewegte sich so, als stünden ihm die Kleider von Rechts wegen zu. Sein Gewand war aus einem Stoff, den ich nicht kannte und dessen Farbe – ein Blau, das ins Violette spielte – ich noch niemals an einem Menschen gesehen hatte. Und er schien gewachsen zu sein, doch das war nur eine Täuschung, verursacht durch die Weise, wie er von den Umstehenden behandelt wurde, von seinen Anhängern, von denen, die mit ihm gekommen waren und von denen keiner so gekleidet war wie er oder einen ähnlichen Glanz ausstrahlte. Es dauerte eine Weile, bis er das Zimmer durchquert hatte, dennoch sprach er mit niemandem und schien auch nirgends stehen zu bleiben.
    Als ich aufstand, um ihn zu umarmen, wirkte er fremd, seltsam förmlich und von oben herab, und ich dachte, dass ich jetzt sprechen sollte, flüsternd sprechen, ehe andere zu uns stießen. Ich drückte ihn an mich.
    »Du schwebst in großer Gefahr«, flüsterte ich. »Du stehst unter Beobachtung. Wenn ich den Tisch verlasse, musst du ein paar Minuten warten und mir dann folgen, und du darfst keinem etwas sagen, und wir müssen von hier weggehen, müssen noch in dieser Stunde hier weg sein. Warte bis Braut und Bräutigam kommen, und dann gehe ich, als wollte ich mich frisch machen, und das wird das Zeichen sein. Du musst mir folgen. Du darfst keinem sagen, dass du gehst. Du musst allein weggehen.«
    Noch ehe ich ausgeredet hatte, war er von mir abgerückt.
    »Weib, was geht’s dich an, was ich tue?«, fragte er, und dann noch einmal lauter, sodass es überall zu hören war: »Weib, was geht’s dich an, was ich tue?«
    »Ich bin deine Mutter«, sagte ich. Aber da hatte er schon begonnen, zu anderen zu sprechen, geschwollene Sprüche und Rätsel, und er sprach in seltsamen, anmaßenden Wendungen von sich und seiner Aufgabe in der Welt. Ich hörte ihn sagen – ich hörte es in dem Moment, und ich bemerkte, dass sich Köpfe neigten ringsum, als er es sagte –, ich hörte ihn sagen, dass er der Sohn Gottes sei.
    Als er sich setzte, fragte ich mich, ob er sich über das, was ich ihm zugeflüstert hatte, Gedanken machte, ob ich mich, sobald Braut und Bräutigam erschienen, entfernen und dann auf ihn warten sollte. Aber wie wir warteten und immer mehr Leute kamen, um ihn zu berühren, und als sich herumsprach, wie viele noch draußen standen, begriff ich, dass er mich nicht einmal gehört hatte. In der damaligen Aufregung hörte er auf niemanden. Und als Braut und Bräutigam kamen und die ersten Jubelrufe

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