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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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ich noch einmal etwas Derartiges sehen müsste. Er verließ mich nicht, der Anblick in der Ferne, und er ließ mich schaudern, und ich musste an etwas anderes denken, um die Erinnerung daran auszulöschen, an das unaussprechliche Bild, seine ungeheure, düstere Grausamkeit. Aber ich wusste nicht genau, wie das Opfer starb oder wie lang es dauerte, ob sie Speere einsetzten oder es folterten, während es da hing, oder ob etwas anderes, wie etwa die heiße Sonne, bewirkte, dass der Körper mit der Zeit den Geist aufgab. Von allen Dingen, an die ich in meinem Leben gedacht hatte, lag mir nichts so fern wie das. Eine Kreuzigung hatte nichts mit mir zu tun, und ich war davon überzeugt, dass ich nie wieder eine miterleben oder damit irgendwie in Berührung kommen würde. Jetzt hörte ich mich Markus fragen, wie lang so eine Kreuzigung dauere, als ob sie etwas Überraschendes, aber gleichzeitig auch Gewöhnliches sei. Er erwiderte: »Tage vielleicht, aber manchmal nur Stunden, es hängt davon ab.«
    »Wovon?«, fragte ich.
    »Frag nicht«, sagte er. »Es ist besser, wenn du nicht fragst.«
    Dann trennte er sich von mir und entschuldigte sich dafür, dass er nicht mit mir reisen könne, dass er seine Beziehung zu mir wenn irgend möglich würde lose und geheim halten müssen. Er riet mir, einen Umhang zu tragen und vorsichtig zu sein und mich unterwegs zu vergewissern, dass mir niemand folgte. Bevor er ging, bat ich ihn, noch eine Minute zu warten. Etwas an seiner Forschheit, an der geschäftsmäßigen Weise, wie er mit der Sache umging, hatte mich irritiert.
    »Woher weißt du das alles?«, fragte ich ihn.
    »Ich habe Informanten«, sagte er feierlich, fast stolz. »Personen, die nah an der Quelle sitzen.«
    »Und die Entscheidung steht fest?«, fragte ich.
    Er nickte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass, wenn mir noch eine Frage eingefallen wäre, noch eine Sache, die ich hätte sagen können, die Bedeutung sich geändert und abgemildert hätte. Er wartete an der Tür ab, was ich noch zu sagen hatte.
    »Werde ich ihn finden, wenn ich nach Jerusalem gehe?«, fragte ich.
    »An der Adresse, die ich dir gegeben habe«, erwiderte er, »wird man mehr wissen als ich.«
    Fast hätte ich ihn da gefragt, warum ich jemandem vertrauen sollte, der mehr wusste als er, aber ich sah ihn an, wie er an der Tür zögerte. Und selbst noch in der letzten Sekunde, bevor er endlich aufbrach, dachte ich, dass es noch etwas gab, was ich hätte fragen oder sagen sollen. Noch eine Sache. Aber ich kam nicht darauf, was es sein könnte. Und dann ging er, und vielleicht weil so lange niemand mehr in diesem Haus gewesen war, hinterließ er einen Geruch reinen Unbehagens. Und je länger ich allein dasaß, desto mehr wurde mir klar, dass ich, aus welchem Grund auch immer, besser nicht zu der Adresse gehen sollte, die er mir gegeben hatte, dass ich wieder nach Kana gehen würde, zu Mirjam, und dann würde ich Martha und Maria aufsuchen, und ich würde sie fragen, was ich tun sollte.
    *
    Ich zog mich so an, wie er mir empfohlen hatte, mit einem Umhang darüber. Wenn ich etwas sagen musste, sprach ich leise. Ich fand eine Reisegesellschaft, die in Richtung Kana zog, und schloss mich ihr an, und rastete, wenn die anderen rasteten, und ich achtete darauf, mich nicht abzusondern, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Die Gespräche waren unbekümmerter, als ich je welche gehört hatte, und sie gingen gegen die Römer, die Pharisäer, die Ältesten, selbst gegen den Tempel, gegen Gesetze und Steuern. Und die Frauen sprachen fast ebenso viel wie die Männer. Es war, als lebte man in einer neuen Zeit. Und dann kam das Gespräch auf die Wunder, die mein Sohn und seine Anhänger bewirkt hatten, und darauf, dass jetzt viele verzweifelt wünschten, ihnen zu folgen oder lediglich in Erfahrung zu bringen, wo sie waren.
    Schon da lastete das, was geschehen sollte, schwer auf mir. Zeitweilig allerdings entfiel es mir, ich ließ meine Gedanken schweifen, nur um festzustellen, dass das, worauf ich mich zubewegte, nur darauf wartete, mich anzuspringen, so wie ein erschrecktes Tier einen anspringt. Genau so kam es, in plötzlichen Sätzen und Sprüngen. Und dann wieder kam es langsamer, heimtückischer. Es drang in mein Bewusstsein, schlich sich in mich ein, so wie ein giftiges Tier auf einen zukriecht. In einer Nacht während meiner Reise irrte ich hinaus unter einen Himmel, der von Sternen erhellt war, und ich glaubte einen Augenblick lang, dass diese

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