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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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wurde, holte ich es mir. Eines Tages, als es lauter und hartnäckiger als gewöhnlich klopfte und eine Männerstimme dazu brüllte, hörte ich, wie sich die Nachbarn auf der Straße versammelten und dem Betreffenden erklärten, dadrinnen sei niemand. Als die Stimme fragte, ob das nicht das Haus meines Sohnes sei und ob ich nicht unter diesem Dache wohne, antworteten die Nachbarn ja, aber das Haus sei jetzt leer und abgesperrt, und seit längerem sei dort niemand mehr gewesen. Ich stand innen an der Tür und horchte, fast ohne zu atmen, ohne das leiseste Geräusch zu machen.
    Ich wartete, und Wochen vergingen. Gelegentlich hörte ich doch Neuigkeiten. Ich wusste, dass er nicht wieder in die Berge gegangen war, und ich wusste außerdem, dass Lazarus nach wie vor am Leben und an jedem Brunnen und jeder Straßenecke, an jedem Ort, wo sich Menschen versammelten, zu einem Gegenstand heftiger Diskussion geworden war. Ich wusste, dass die Leute vor Lazarus’ Haus warteten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, dass alle Angst vor ihm verflogen war. Für diejenigen, die sich versammelten und schwatzten, war es eine wunderbare Zeit, angefüllt mit Gerüchten und Neuigkeiten, angefüllt mit Geschichten, wahren wie wild übertriebenen. Ich führte zumeist ein stilles Leben, aber irgendwie schlich sich die Wildheit hinein, die geradezu in der Luft lag, einer Luft, in der Tote ins Leben zurückgeholt, Wasser in Wein verwandelt und selbst die Wellen des Meeres von einem Mann, der auf dem Wasser wandelte, beruhigt worden waren – dieser große Aufruhr in der Welt schlich sich wie kriechender Nebel oder wie Feuchtigkeit ein in die zwei, drei Zimmer, die ich bewohnte.
    *
    Als Markus kam, hatte ich ihn schon erwartet. Ich hörte es eine Zeitlang klopfen, und dann hörte ich ihn eine Nachbarin fragen, wo ich sei. Ich machte ihm auf. Die Schatten flossen allmählich zusammen, aber ich zündete keine Lampe an; es war einen Monat her oder länger, dass ich zuletzt eine Lampe benutzt hatte. Ich bot ihm einen Stuhl am Tisch an und dann Wasser und Obst. Ich forderte ihn auf, mir zu erzählen, was er erzählen konnte. Er sagte, es gebe nur eins, was er mir sagen müsse, und ich solle mich darauf gefasst machen, das Schlimmste zu hören. Er sagte, man sei zu einer Entscheidung gelangt, wie mit der Situation umzugehen sei. Er hielt einen Augenblick inne, und ich dachte, dass mein Sohn vielleicht verbannt oder dass ihm untersagt werden würde, weiter in der Öffentlichkeit aufzutreten und Reden zu halten. Daher stand ich auf und lief zur Tür, warum, weiß ich nicht, ich tat so, als wollte ich das Haus verlassen, um nicht hören zu müssen, was er gleich sagen würde. Aber ich erreichte die Tür nicht mehr rechtzeitig. Seine Stimme klang fest, bestimmt.
    »Er soll gekreuzigt werden«, sagte er.
    Ich drehte mich um, und seine Mitteilung bedeutete, dass nur noch eine Frage verblieb.
    »Wann?«
    »In Kürze«, sagte er. »Er kehrt wieder zum Zentrum der Macht zurück, und seine Anhänger sind noch zahlreicher geworden. Die Behörden wissen, wo er ist, und sie können ihn jederzeit gefangen nehmen.«
    Und dann ertappte ich mich dabei, wie ich eine dumme Frage stellte, die ich aber einfach stellen musste.
    »Kann man es verhindern?«
    »Nein«, sagte er, »aber du musst weg von hier, sobald es hell wird. Sie werden nach allen seinen Anhängern suchen.«
    »Ich gehöre nicht zu seinen Anhängern«, sagte ich.
    »Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass sie nach dir suchen werden. Du musst weg von hier.«
    Ich blieb stehen, und ich fragte ihn, was er tun werde.
    »Ich werde jetzt gehen, aber ich kann dir eine Adresse in Jerusalem geben, wo du in Sicherheit sein wirst.«
    »Wo ich in Sicherheit sein werde?«, fragte ich.
    »Fürs Erste wirst du in Jerusalem in Sicherheit sein.«
    »Wo ist mein Sohn?«
    »In der Nähe von Jerusalem. Der Ort für die Kreuzigung steht schon fest. Er wird nahe der Stadt sein. Wenn noch irgendeine Hoffnung für ihn besteht, dann dort, aber man hat mir versichert, dass keine Hoffnung besteht, und zwar schon seit längerem nicht mehr. Sie haben nur gewartet.«
    Ich hatte einmal eine Kreuzigung gesehen, von den Römern an einem ihrer eigenen Leute vollstreckt. Ich sah es von fern, und ich weiß noch, wie ich dachte, dass es das schändlichste und schrecklichste Bild war, das Menschen je heraufbeschworen hatten. Ich weiß, wie ich außerdem dachte, dass ich alt war und immer älter wurde und dass ich hoffte zu sterben, ehe

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