Marias Testament
Stimme und seinem Ton nicht stimmte; ich hatte das Gefühl, dass er nicht wirklich meinte, was er sagte, es aber so gelernt hatte und zu der Überzeugung gelangt war, es wäre gerade deswegen umso wahrer und eindrucksvoller.
Es war schwer zu glauben, dass alles auf dem Platz arrangiert worden war, aber es herrschte schon eine andere Atmosphäre als damals auf den Straßen von Kana oder auf der Hochzeit selbst – es gab keine plötzlichen Schreie oder Stimmungsumschwünge, man hatte nicht den Eindruck einer wild dreinblickenden Zusammenrottung von Menschen. Viele der auf dem Platz Versammelten waren älter; sie kamen in kleineren Gruppen an. Keiner von ihnen schien uns zu erkennen, trotzdem stellten wir uns in den Schatten, und Maria und ich bemühten uns so auszusehen, als sei es etwas ganz Normales für uns, zu einem solchen Ort zu kommen, oder als ob auch wir samt unserem Aufseher Teil der Inszenierung wären.
Anfangs konnte ich nicht hören, was vom Balkon des Gebäudes auf der anderen Seite des Platzes aus gesagt wurde, und es war schwierig, auch nur einen freien Blick zu bekommen. Wir mussten vom Schatten in die Sonne treten und uns dann durch die Menge nach vorn drängen. Es war Pilatus, jeder ringsum murmelte seinen Namen, und wenn er zum Reden ansetzte, brüllte er von Mal zu Mal lauter.
»Was bringet ihr für Klage wider diesen Menschen?«
Und die Leute schrien zurück wie aus einem Mund.
»Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet.«
Das Nächste bekam ich nicht mit, weil mich jemand zur Seite stieß und um uns herum zu viel geredet wurde, aber Maria hörte es, und sie erzählte mir, was es war. Pilatus hatte die Volksmenge aufgefordert, den Gefangenen zu nehmen und nach jüdischem Gesetz zu richten.
Pilatus war noch immer allein auf dem Balkon, nur ein, zwei Beamte standen etwas abseits. Jetzt hörte ich die Antwort der Menge, denn sie kam in gellenden Tönen.
»Wir dürfen niemand töten«, sagten sie, und so wie sie es sagten, wurde klar, dass alles, jeder Augenblick, den wir miterlebten, tatsächlich arrangiert worden war. Ich hatte nicht gedacht, dass so etwas möglich wäre. Dann verschwand Pilatus und eine neue Stimmung machte sich allmählich unter den Umstehenden bemerkbar, das Reden und Murmeln verstummten, und ich spürte etwas Frisches in die Atmosphäre kommen, während wir alle in die Richtung des Balkons starrten. Ich spürte in der Menge einen Durst nach Blut. Ich konnte ihn in den Gesichtern der Menschen sehen, ihren angespannten Kiefern und ihren Augen, grell vor Erregung. In den Gesichtern mancher war eine dunkle Leere, und sie verlangten danach, dass diese Leere mit Grausamkeit ausgefüllt würde, mit Schmerz und eines Menschen Schreien. Nur etwas Scheußliches würde sie jetzt befriedigen, jetzt, da ihnen gestattet worden war, es zu wollen. Sie hatten sich von einer Menschenmenge, die tat, was ihr befohlen worden war, in eine Horde verwandelt auf der Suche nach einer ungeheuren Befriedigung, wie sie nur Schmerzensschreie und zerfetztes Fleisch und gebrochene Knochen gewähren konnten.
Wie die Zeit verging und wir da wartend standen, merkte ich, dass dieser Hunger sich wie eine Seuche ausbreitete, bis ich sicher war, dass er jeden einzelnen Menschen dort erfasst hatte, gleichwie sich vom Herzen gepumptes Blut unaufhaltsam seinen Weg in jeden Teil des Körpers bahnt.
Als Pilatus wieder herauskam, hörten sie ihm zu, aber seine Worte änderten nichts.
»Ich finde keine Schuld an ihm«, sagte er. »Ihr habt aber eine Gewohnheit, dass ich euch einen Gefangenen zum Passahfest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch der Juden König losgebe?«
Die Menge war bereit. Sie schrie zurück: »Nicht diesen, sondern Barabbas!« Und Barabbas der Dieb erschien und wurde zum beifälligen Gebrüll der Menge freigelassen. Und dann ertönte von irgendwo ein Schrei, und die Leute vorne schienen etwas sehen zu können, was wir nicht sahen, und es entstand Verwirrung in der Menge und auch etwas wie Ungeduld, und immer mehr Menschen drängten auf den Platz, sodass wir plötzlich nicht mehr am Rande standen, sondern in der Mitte, und wir hielten alle drei zusammen und sagten nichts und unternahmen alles, um unbemerkt zu bleiben. Jedermanns ganze Aufmerksamkeit war auf den Balkon gerichtet, als wüssten sie alle, was sie in Kürze zu sehen bekommen würden, und warteten nur auf diese große Erfüllung.
Und dann kam’s, und die Menge keuchte auf, es war ein Keuchen
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