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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Sterne bald aufhören würden zu funkeln, dass die Nächte der Zukunft dunkler als dunkel sein würden, dass die Welt eine gewaltige Veränderung durchmachen würde, und dann erkannte ich schnell, dass diese Veränderung nur mir widerfahren würde und den wenigen, die mich kannten; nur wir würden in Zukunft nachts zum Himmel schauen und die Dunkelheit vor dem Funkeln sehen. Wir würden die funkelnden Sterne als falsch und tückisch ansehen oder uns selbst in ihnen erkennen, wie wir durch die Nacht irrten, übrig gebliebene Dinge, deren Leuchten eine Art Flehen war. Ich muss in diesen Nächten geschlafen haben, und bald gab es keinen Augenblick mehr, wo das, worauf ich mich zubewegte, sich nicht in meinem Wachen und meinen Träumen festgesetzt, nicht jeden Gedanken in Beschlag genommen hätte.
    *
    Mirjam hatte schon Gerüchte gehört, und als ich ankam, konnte ich an der Angst in ihren Augen erkennen, dass sie mir nichts erzählen würde. Ich sagte ihr, ich wüsste Bescheid. Und deswegen wäre ich gekommen. Aber sie wirkte weiterhin befangen. Sie kam mir im Flur entgegen und ließ die Tür halb geschlossen, während ich dastand, und da begriff ich, dass sie mich nicht über die Schwelle lassen würde, an der sie stand, ja dass sie mir tatsächlich den Zutritt verwehrte.
    »Was weißt du?«, fragte ich.
    »Ich weiß«, sagte sie, »dass sie alle seine Freunde und Anhänger festnehmen.«
    »Hast du Angst?«
    »Hättest du keine?«
    »Willst du, dass ich gehe?«
    Sie zuckte nicht mit der Wimper.
    »Ja.«
    »Jetzt?«
    Sie nickte, und irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck und an ihrer Haltung und der Aura, die sie ausstrahlte, verriet mir in dem Sekundenbruchteil mehr, als ich zuvor gewusst hatte. Ich wusste, dass ich etwas Raubtierhaftem, etwas unbegreiflich Finsterem und Bösem ins Antlitz blickte. Ich erwartete, auf der Stelle an der Tür gefasst, irgendwohin verschleppt zu werden, um für immer aus der Welt zu verschwinden. Ich begriff alles, und beinah hätte ich losgeheult, wäre ich nicht sicher gewesen, dass Mirjam das unterbunden hätte. Also dankte ich ihr stattdessen und wandte mich ab. Ich wusste, dass ich sie im Leben nicht wiedersehen würde, und ich begab mich zu Marthas und Marias Haus und war darauf gefasst, auch von ihnen abgewiesen zu werden.
    Sie hatten mich erwartet. Ihr Bruder lag wieder in einem verdunkelten Zimmer und konnte nicht sprechen. Sein Schlaf sei von Seufzern und Schreien durchsetzt. Martha sagte, sein Heulen in der Stunde vor dem Morgengrauen peinigte die Seele jedermanns, der es hörte. Ich erzählte Martha und Maria von Markus’ Besuch und was im Haus meiner Cousine Mirjam geschehen war. Ich erklärte, dass ich möglicherweise beobachtet und beschattet wurde, und dass ich bereit war, ihr Haus unverzüglich zu verlassen. Sie sagten mir, ihr Haus stehe vermutlich ebenfalls unter Beobachtung, und dass eine von ihnen würde dableiben müssen, aber sie hätten bereits entschieden, dass, sollte ich hilfesuchend zu ihnen kommen, Maria mich nach Jerusalem begleiten würde, wir beide uns im Schutz der Nacht davonstehlen würden. Und wenn man uns folgte, konnten wir nichts anderes tun, als uns einen Weg überlegen, wie wir unseren Verfolgern entkommen konnten. Und dann sah ich den Unterschied zwischen den zwei Schwestern, als Martha mir erzählte, sie wüsste, dass er von Pilatus gerichtet und der Volksmenge vorgeführt werden sollte, damit man sähe, ob diese seine Freilassung wünsche, aber die Ältesten, sagte sie, hätten ihre Anweisungen bereits erlassen, sodass es keinerlei Bedeutung haben würde. Sowohl die Römer als auch die Ältesten wollten ihn tot sehen, aber beide hatten Angst, das offen zuzugeben.
    Maria hielt dagegen, dass etwas geschehen würde, was solche Richtersprüche und Voraussagen bedeutungslos machen würde, dass für die Welt die Zeit gekommen wäre und diese Tage die letzten Tage und die Tage des Anfangs sein würden. Während sie sprach, träumte ich, wir würden irgendwohin fliehen, wohin auch immer. Ich träumte, dass ich meinen Sohn durch die Menge führte, dass er bescheiden, demütig und seltsam ängstlich dabei war und sich vorsichtig bewegte, die Augen niedergeschlagen, seine Anhänger in alle Winde zerstreut. Aber der Tempel hatte die Leute auf dem Platz in seiner Hand, beharrte Martha wieder, es war ihnen befohlen worden, stattdessen nach der Freilassung des Diebes Barabbas zu verlangen, und das Volk würde tun, was man ihm befohlen hatte. Mein Sohn würde

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